Außenseiter:innen, also marginalisierte Gruppen in einer Gesellschaft wahrzunehmen, ihre Lebensbedingungen zu registrieren, zu erforschen und öffentliche Sichtbarkeit für sie einzufordern, ist das Hauptanliegen des künstlerisch-wissenschaftlichen Forschungsprojekts. Sie alle leiden unter ähnlichen systematischen Exklusionsverfahren, die sie immer wieder und immer weiter an den gesellschaftlichen Rand drängen. Im Unterschied zu ihren männlichen Leidensgenossen gelten drogensüchtige Frauen in europäischen Gefängnissen als ein solches »vernachlässigbares Phänomen«. Dem widerspricht die Arbeit der OUTCAST REGISTRATION, indem es das Bedürfnis der Teilnehmerinnen wahrnimmt, ihre Lebenswege zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen, was schließlich auch heißt, einen Teil der Verantwortung für ihre Erkrankung der Gesellschaft zurückzugeben.
eine (teil-)öffentliche Zusammenkunft, in der die Projektarbeit interdisziplinär mit Spezialist:innen aus den Bereichen Kunst und Wissenschaft, Politik und Verwaltung diskutiert und reflektiert wird. Auf diese Weise werden die Projektpräsentationen im kulturellen Raum sowie die Interventionen (siehe Drop off bzw. Speech Activitiy) im öffentlichen Raum kritisch begleitet.
auch Grafiken, digitale Zeichnungen, Statistiken etc., versammeln und visualisieren empirisch erhobene Daten und Fakten aus den Strafregistern. Auf diese Weise werden die Straftaten der jeweiligen Projektteilnehmerin abgebildet (siehe Diagramm »Straftaten I«), die Verurteilung und Gefängnis zur Folge hatten, ebenso wie die Straftaten, die an ihr verübt wurden, samt ihrer Folgen (siehe Diagramm »Straftaten II«). In Verbindung mit den Ereignissen aus der ›kalten‹ Biografie und den Notizen aus Gedächtnisprotokollen unzähliger Gespräche (persönlich, telefonisch und schriftlich), die Ulrike Möntmann mit den Teilnehmerinnen geführt hat, werden die spezifischen Bedingungen, Muster und wiederkehrenden Konsequenzen veranschaulicht und kontextualisiert.
als Übersetzung für den griechischen Begriff parrhesia schlägt Michel Foucault die Bezeichnung speech activity vor, um das Wahrsprechen und die Verpflichtung, die damit verbunden ist, von den gebräuchlichen Formen der Äußerung, mit denen sich jemand identifiziert, zu differenzieren. In deutlicher Unterscheidung vom linguistischen speech act nach Austin und Searle geht es Foucault dabei insbesondere um das Verhältnis zwischen dem:der parrhesiastischen Sprecher:in und dem Geäußerten.
(KT) eine regelmäßig einberufene, interne Zusammenkunft von sogenannten Komplizinnen verschiedener Disziplinen und Praxisbereiche, die einen kontinuierlichen Gedankenaustausch über die Zielsetzungen des Projekts etappenweise und aus unterschiedlichen Perspektiven befördern. Dieser kritische Dialog wird während jeder Projektausführung um ortsansässige Expert:innen erweitert und theoretisch vertieft.
ein Kernelement des künstlerisch-wissenschaftlichen Forschungsansatzes aller Projekte, das sowohl die Zusammenarbeit mit den strafrechtlich verurteilten, drogenkranker Frauen, mit Kolleg:innen, Wissenschaftler:innen und Institutionen kennzeichnet als auch den Dialog mit Spezialist:innen verschiedener Fachgebiete wie Philosophie, Kunst(-theorie), Psychiatrie, Soziologie, Politologie, Rechtswissenschaften. Durch das teils direkte, teils vermittelte Verknüpfen unterschiedlicher Expertisen wird die Wissenszirkulation im Netzwerk der OUTCAST REGISTRATION erweitert.
stammt aus dem Griechischen und bedeutet »Redefreiheit« oder »über alles reden«. Es ist der theoretische Schlüsselbegriff des gleichnamigen Projekts PARRHESIA: DIE RISKANTE HANDLUNG DES WAHRSPRECHENS, das sich auf die Ausführungen Michel Foucaults zum parrhesiastischen Sprechen stützt. Ausgehend von der antiken Tradition des Wahrsprechens, das sich bis zu Euripides zurückverfolgen lässt, erklärt Foucault parrhesia als eine verbal-performative Tätigkeit, »bei der der Sprecher seine persönliche Beziehung zur Wahrheit ausdrückt und sein Leben aufs Spiel setzt, weil er das Wahrsprechen als eine Pflicht erkennt, um anderen Menschen (so wie sich selber) zu helfen oder sie zu verbessern. [...] Bei parrhesia gebraucht der Sprecher seine Freiheit und wählt Offenheit anstelle von Überredung, die Wahrheit anstelle von Falschheit oder Schweigen, das Risiko des Todes anstelle von Leben und Sicherheit, die Kritik anstelle von Schmeichelei, und die moralische Pflicht anstelle von Eigennutz und moralischer Gleichgültigkeit.« (Quelle: Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen, Bd. II. Vorlesungen am Collège de France 1983/84. Aus dem Französischen übersetzt von Jürgen Schröder. Frankfurt a. M.: Suhrkamp: 2012, S. 26.)
Jahrgang 1976, nimmt 2000/01 in der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Vechta/Niedersachsen am Projekt »Kollektion Gefängnis Kleidung« teil und wird währenddessen clean. Nach Abschluss des Projekts begibt sie sich zum ersten Mal in eine stationäre Therapie, in der sie mit den Ursachen ihrer Drogenerkrankung konfrontiert wird. In der zweiten Phase der Therapie unter halboffener Betreuung wird sie rückfällig, lebt auf der Straße von Prostitution und wird kurze Zeit später erneut inhaftiert. Rebecca Mertens’ Lebensweg ist geprägt vom Drehtüreffekt und darin exemplarisch, ihre radikale Offenheit und Selbstbetrachtung hingegen sind außergewöhnlich. Die Zusammenarbeit ist von Beginn an intensiv und hält trotz längerer Pausen bis heute an. Ihre Biografie ist die stärkste Aufforderung, die Lebensbedingungen von Frauen in europäischen Gefängnissen vor und nach Beginn ihrer Drogenerkrankung zu registrieren und weiter zu erforschen.
auch Strafakten, Schriftsätze, Protokolle etc., bezeugen gewissermaßen »die andere Biografie« und enthalten das Urteil nach den angewandten Gesetzen und ihrer Auslegung im individuellen Fall der Rechtsbrecher:in im Wortlaut. Anders als pauschal zumeist angenommen, finden sich in den Strafregistern der beteiligten Frauen zu 95% Bagatelldelikte wie einfacher Diebstahl (Beschaffungskriminalität) und nicht etwa schwere Vergehen und Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Vielmehr ist es die Summe dieser Bagatelldelikte bzw. der Nichtbefolgung von Auflagen, die zu jahrelangem Leben im Knast führen. Die konkrete Benennung der Straftaten ist wichtig, um Systemfehler aufzudecken und zugleich eine Art »Gegendarstellung« auf der Grundlage gerade derjenigen Fakten zu formulieren, die die Verurteilung ursprünglich begründen sollen.
Akronym für den Projekttitel THIS BABY DOLL WILL BE A JUNKIE, der suggeriert, dass Drogensucht ein zwangsläufiges Schicksal ist, eine unheilvolle Prophezeiung für ein Menschenleben, das kaum begonnen hat. Er widerspricht zum einen gängigen Vorstellungen von Freiheit, Unabhängigkeit, Chancengleichheit und individueller Selbstbestimmung als garantierten, unanfechtbaren Rechten jedes Individuums. Zum anderen kritisiert er auch eine fatale Konsequenz dieses Ideals, das häufig mit der vermeintlichen Berechtigung einhergeht, die Drogenerkrankung und die daraus resultierenden Gesetzesverstöße als rein individuelle Angelegenheit persönlichen Versagens zu verurteilen. Dieses Nicht-Betrauern derjenigen, denen bereits ein lebenswertes Leben abgesprochen wurde, diskreditiert Verbundenheit, d.h. die Bereitschaft, sich in Gleichheit und Verschiedenheit auf eine gemeinsame Welt einzulassen.