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RAUM, HANDLUNG UND PRAXIS

KUNST I

27 Oktober 2012, Amsterdam

TEILNEHMER:INNEN

Sabeth Buchmann, Kunsttheorie/-geschichte, Akademie der bildenden Künste, Wien, Österreich
Alexandra Landré, Kunstgeschichte und Kuratorin, Amsterdam, Niederlande
Ulrike Möntmann, Künstlerin, Amsterdam, Niederlande, und Wien, Österreich
Ruth Sonderegger, Philosophie und Kunsttheorie, Akademie der bildenden Künste, Wien, Österreich

Das erste Komplizinnentreffen bringt Disziplinen zusammen, die mit dem Projekt THIS BABY DOLL WILL BE A JUNKIE (TBDWBAJ) als einer in der Kunst verorteten Intervention am direktesten verbunden sind. Dieses Treffen findet an zwei Tagen statt und umfasst – ausgehend von der detaillierten Projektbeschreibung und Einführung in die von der Künstlerin verwendeten Terminologie und theoretischen Rahmung – ein weitreichendes Spektrum von Themen bzw. Fragestellungen. Diese Zusammenfassung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern beschränkt sich auf die fragmentarische Wiedergabe der Themen, die hinsichtlich der Entwicklung des Projektes (Praxis/Forschung) von größtem Belang sind.

INTRODUKTION DER STAFFELLAUF – METHODE

Kollaboration ist ein Kernelement meiner Vorgehensweise: in Kooperation mit strafrechtlich verurteilten drogen–konsumierenden Frauen, mit Kolleg_innen, Wissenschaftler_innen und Institutionen. Im Austausch mit Spezialist_innen werden Fachgebiete der Philosophie, Kunst(-theorie), Psychiatrie, Soziologie, Politologie, Rechtswissenschaften betreten und Personen direkt oder indirekt miteinander in Kontakt gebracht. Das Zusammenbringen spezifischer Expertise mündet in eine Wissenszirkulation, die das TBDWBAJ Netzwerk bildet.

(Projektbeschreibung Ulrike Möntmann)

Zu Beginn des Gespräches introduziert Ulrike Möntmann das Prinzip des Staffellaufs als Methode ihrer Praxis und Forschung seit Beginn ihrer im Gefängnis stattfindenden Projektarbeit. Die von ihr regelmäßig durchgeführten „Komplizinnentreffen“ sind wichtige Bausteine dieser Methode. Die Erzählungen, Erfahrungen und Methoden des Projektes sollen, als Staffeln weitergereicht, einen „Anstoß für Experten – Kunsttheoretiker, Psychiater und Soziologen“ geben. Da es erfahrungsgemäß schwierig ist, fachspezifische Perspektiven in einem interdisziplinären Austausch auf hohem Niveau zu teilen, sollen die konzentrierten Komplizinnentreffen einen zu isolierten Umgang mit dem (Forschungs-)Material und eine „Verwässerung von Expertisen“ in zu großer Gesprächsrunde vermeiden. Die Staffellauf-Methode impliziere eine strenge Transdisziplinarität als mögliche Antwort auf den „Tod des Ein-Autor-Subjektes“ und greife damit, so Sabeth Buchmann, in bestehende Forschungspraktiken ein – „spannend und gleichzeitig innerhalb der Institutionen oft so nicht vorgesehen.“

Tagungen, Konferenzen, Debatten u. ä. (hier z. B. Former West, Artistic Research Debatten etc.) werden von allen Gesprächsteilnehmerinnen in ihrer herkömmlichen Form oft als unbefriedigend erfahren und es ergibt sich die folgende, längerfristige Fragestellung, ob und wenn ja, wie ein konstruktiver interdisziplinärer Wissenstransfer möglich sei? Ulrike Möntmanns Methode (Komplizinnentreffen / Staffellauf) könnte ein Ansatz für eine „bezugs-mögliche Wissenstransformation“ sein.

Sonderegger fügt hinzu, dass die Staffellauf-Vorgehensweise eine Offenheit erfordere, die wichtig für politisches Agieren sei: „[…] Es ist nicht immer von vornherein klar, was folgt und was das große Ziel ist, […] sondern das gemeinsame Arbeiten oder Dranbleiben ist – gerade in so kompetitiven Kontexten wie Artistic Research – schon Teil der Kritik, der politischen Handlung.“ Schon zu Beginn des Projektes TBDWBAJ schließt das Staffellaufprinzip neben etablierten Experten auch die Projektteilnehmerinnen mit ein: Z. B. formuliert die drogenabhängige Rebecca Mertens für die ersten Baby Dolls ihre eigene Biografie in 11 Sätzen, womit sie die zukünftige Artikulationsform der Biografien prägt. Ihre nüchterne Konstatierung von Lebensereignissen, emotional scheinbar völlig unbeteiligt, bestätigt eine ganz bestimmte Selbstbetrachtung, die symptomatisch für die inhaftierten Projektteilnehmerinnen und deren generelle Annahme von Schuld erscheint. Hieraus ist Ulrike Möntmanns Bedürfnis entstanden, Biografien anderer Frauen im internationalen Kontext zu vergleichen um die Rolle sozialer, kultureller und politischer Bedingungen zu untersuchen.

VERORTUNG DES KÜNSTLERISCHEN BEI TBDWBAJ – RAUM, HANDLUNG UND PRAXIS

TBDWBAJ begibt sich in Situationen und agiert in gesellschaftlichen Räumen: dem isolierten Raum, dem kulturellen Raum, dem öffentlichen Raum und dem virtuellen Raum. Das Erschließen und Passieren dieser verschiedenen Räume ermöglicht die Zirkulation von Wissen über Lebensbedingungen politisch nicht–repräsentierter Bevölkerungsgruppen.

(Projektbeschreibung U. M.)

Die bisher gehandhabte, aus dem Prozess entstandene Gliederung des Projektes in Raumbegriffe, ist für Ulrike Möntmann noch immer überzeugend, die Komplizinnen weisen sie jedoch auf begriffsimmanente Einschränkungen hin: „Raum ist begrenzt, mit Mauern gedacht, somit werden die impliziten Übergänge nicht ausreichend verbildlicht.“ Sabeth Buchmann schlägt in diesem Zusammenhang „Topologie“ als begriffliche Alternative vor, da diese Betrachtung raumüberschneidende Bewegungen und Infrastrukturen berücksichtige. Somit könnten die verschiedenen Ebenen von Handlung, Praxis, Artikulation und Narration in einem dynamischeren Verhältnis beschrieben und auf diese Art der Komplexität des Projektes gerecht werden.

ENTSCHEIDUNGSPROZESSE

Hinsichtlich des künstlerisch-forschenden Charakters des Projektes, wird die Relevanz der innerhalb des Prozesses getroffenen Entscheidungen thematisiert.

„Ein großer Teil von klassischer Forschung besteht darin, zu sagen, warum man bestimmte Entscheidungen trifft oder getroffen hat“, führt Ruth Sonderegger an. „Worin unterscheidet sich deine Praxis von den klassischen wissenschaftlichen Zugängen […] mit künstlerischen oder in jedem Fall, nicht klassisch-soziologischen, nicht klassisch-wissenschaftlichen Interaktionspraktiken, für die du Raum lässt oder kreierst?“ Es sei interessant, den Beginn dieser Arbeit und die Vorgehensweise auf den verschiedenen Stufen nach den einzelnen künstlerischen und methodischen Entscheidungen und Überlegungen zu untersuchen. Das so gewonnene Material ermögliche einen Vergleich mit der klassischen Sozialwissenschaft: „Wo trifft Ulrike innerhalb des Projektes andere Entscheidungen als Sozialwissenschaftler_innen und aus welchen Beweggründen heraus?“ Gerade eine Analyse, Betrachtung und Erzählung dieser Entscheidungsprozesse mache – laut Sonderegger – die Verortung des Künstlerischen möglich und eröffne wiederum andere Fragestellungen für Außenstehende.

Die Entwicklung der Methode habe schon bei der ersten Gefängnisarbeit (Lücke Projekt, 1997) begonnen und werde, so Möntmann, als umfangreiche Beschreibung und Analyse aller Projekte, Bestandteil der voraussichtlich 2016 erscheinenden Publikation, um die bewusst bzw. akzidentiell getroffenen künstlerisch-methodischen Entscheidungen innerhalb des Arbeitsprozesses und der Konfrontation mit institutionellen Gegebenheiten offenzulegen.

Auch für Sabeth Buchmann ist gerade bei kollaborativen Arbeiten die Vermittlung der durch den Arbeitsprozess bedingten Entscheidungen wichtig, da sie eine bessere und produktivere Lesbarkeit des Materials bewirkt (z. B. der visuell starken Diagramme). Sie verlangt in diesem Zusammenhang jedoch eine Spezifizierung der Verortung des Künstlerischen. Ob es sich hier um eine an den visual studies orientierten ästhetischen Kritik handele, ob es ein erweitertes künstlerisches Projekt oder ob es ein soziologisches Verfahren mit künstlerischen Mitteln sei. Sei schon die Konzeption im Vorfeld die künstlerische Praxis? Oder liege diese vor allem in einer Bedeutungsproduktion innerhalb des Kommunikations- und Interaktionsprozesses mit den Projektteilnehmerinnen? „Wobei das strukturell hierarchische Therapieverhältnis aufgehoben ist, da es um einen gemeinsamen Prozess der Herstellung geht, z. B. einer von beiden Seiten geäußerten Kritik einerseits an der Frage der Repräsentation von Frauen, die Drogen nehmen und ihre Knastkarrieren haben, andererseits an der Verweigerung, sich mit den Bedingungen auseinanderzusetzen?“ Es sei gerade für die Publikation der Arbeit wichtig, Entscheidungen dahingehend zu treffen, was man „lesbar“ machen wolle.

Ruth Sonderegger konstatiert „institutionelle Hartnäckigkeit als künstlerische Praxis“ in Ulrike Möntmanns Arbeit, wobei der Begriff des Einmischens eine essentielle Rolle spiele. Im Kontext von TBDWBAJ bezöge sich das Einmischen sowohl auf die Institutionen als auch auf den direkten Kontakt mit den Frauen im Gefängnis. Da TBDWBAJ nicht innerhalb einer Auftragssituation ausgeführt, sondern selbstständig initiiert werde, betont Möntmann, sei die Vorbereitung relevanter Teil der künstlerischen Intervention. Spezifische politische, gesellschaftliche und kulturpolitische Strukturen jedes Landes bzw. jeder Institution, müssten vor der Kontaktaufnahme gründlich recherchiert werden („Hausaufgaben“). Diese Vorverhandlungen zwischen Ulrike Möntmann und der Institution im Vorfeld jeder Projektetappe könne man – so Sonderegger – als institutionelle „Zusatzforschung“ bezeichnen.

KRITISCHE MASSE

Im Zusammenhang mit Möntmanns Agieren aus dem Kunstkontext heraus stellt sich für Buchmann die Frage nach der von ihr adressierten Öffentlichkeit: „Würdest du sagen, dass […] der Kunstbegriff schlichtweg auch einer ist, den man strategisch besetzt? […] Weil mit dem Begriff der Kunst und diesem Claim auch eine bestimmte Öffentlichkeit mit eingefordert, mit besetzt oder mit adressiert ist? […] Ist es die Öffentlichkeit, die letztendlich deine Bereitschaft, dich einzumischen, mit dir teilen würde, also eine partizipierende Öffentlichkeit? Und wenn ja, in welchem Sinne? […] Oder wird hier etwas auf die Ebene der Repräsentation verschoben und damit der Raum des Konflikts, wo die tatsächliche Veränderung stattfinden könnte, umgangen?“ Sich eher vom Begriff des öffentlichen Raumes ab- und den Praktiken zuwendend, führt Buchmann fragend fort: „Wie bildet man eine kritische Masse […] eine Konstellation von Leuten, politischen Subjekten […], die nicht über Identität, Interessenspolitik, strategische Gemeinschaften organisiert ist, sondern eine, die tatsächlich eine Form von politischer Kritik, von Analyse als Grundlage von Widerstand leistet? […]“

ARTIKULATORISCHE PRAXIS BEI TBDWBAJ

An dieser Stelle kommt erneut die Frage nach Autorenschaft auf, diesmal jedoch in Bezug auf die Zusammenarbeit zwischen Ulrike und den Teilnehmerinnen bei der Entwicklung der Biografien. Sabeth Buchmann: „Wie wird gesprochen? In welcher Form wird gesprochen? Welche Informationen werden weitergegeben? […] Und in welchem dynamischen Wechselverhältnis stehen artikulatorische Praktiken mit der Raumproduktion? Wie bedingen diese sich wechselseitig?“

Den Frauen würden, erklärt Möntmann, zunächst keine Fragen zu ihren Biografien gestellt sondern ein Wortkatalog zur Erstellung einer Matrix vorgelegt, um eine mögliche Trauma-Wiederholung zu vermeiden: „Keine Suggestivfragen, sondern eine metaphorische Ordnung des Lebens.“ Die Zusammenstellung der ca.160 Worte des Kataloges sei relativ neutral und werde gegebenenfalls mit fehlenden Worten ergänzt. Die erarbeitete Matrix bilde die Grundlage für das darauffolgende Interview. Nach den Interviews formuliert Möntmann wiederum die Sätze der Biografien und legt diese der jeweiligen Biografin vor, die der Version zustimmt, bzw. notwendige Änderungen angibt: „Das alles sind eigentlich Erfindungen, bzw. findet hier künstlerisches Denken eine Form: die Matrix, das Interview, der Stil der Sprache der Biografien. Und das finde ich den schwierigsten Aspekt der Zusammenarbeit, weil ich in dem Moment etwas formuliere, bzw. festlege. Und doch ist es in 98% der Fälle so, dass die Frauen, wenn sie es zum ersten Mal lesen, geradezu glückselig sind – vielleicht, weil etwas schwarz auf weiß dasteht, wie eine Existenzberechtigung.“ Gerade das Sichtbarmachen dieser „Existenzberechtigung“ sei eine Zielstellung der Arbeit und es gehe ihr darum, eine Methode zu entwickeln, um das Wahrgenommene sichtbar zu machen.

Buchmann erkennt in dem Zusammenhang „Mischformen, die zu allererst aus deinem künstlerischen Wissen und deiner künstlerischen Erfahrung resultieren, Formen einer Sichtbarkeit auch bezüglich der Frage, warum etwas sichtbar ist und etwas anderes nicht. […] „Dein Projekt funktioniert ja nicht nur über Sichtbarmachung, sondern ganz stark auch über Verschlüsselung durch diagrammatisch organisierte Informationen: Aus guten Gründen, weil eine ungeschützte Sichtbarmachung auch eine erhöhte Kontrolle von unerwünschter Stelle mit sich bringen kann.“

An dieser Stelle wird die Bedeutung der Grafiken, Diagramme und Statistiken bei TBDWBAJ diskutiert, die sich überwiegend auf die Projektteilnehmerin Rebecca Mertens beziehen. Worin liegt die Bedeutung der Grafiken, in welchem Verhältnis stehen diese zu schriftlichen Erläuterungen und in welcher Form können diese die Ergebnisse am besten vermitteln? Die Grafiken seien laut Sonderegger sowohl (End-)Resultate der Forschungsarbeit als auch ein Mittel künstlerischen Denkens. Ihrer Meinung nach formten die Diagramme nicht nur Beispiele bzw. Illustrationen der Kenntnis, sondern bildeten den „visuellen Ausgangspunkt der nachträglichen Reflexion“, wobei die Frage bestehen bleibe, ob die Grafiken selbsterklärend seien oder Begleitinformationen benötigten: „Das ist, glaube ich, die Gefahr der Grafiken, dass sie deine unkonventionelle Frageweise zu wenig herausarbeiten, während der reine Text jetzt wiederum genau das nicht so deutlich machen kann.“

PRÄSENTATIONSFORM: BUCH VS. AUSSTELLUNG

Die Problematisierung der Vermittlung der Grafiken eröffnet die Frage nach einer geeigneten Präsentationsform künstlerischer Forschung im Allgemeinen und des Projektes im Speziellen. Ulrike Möntmann sieht das geplante Buch (voraussichtliche Veröffentlichung 2016) als ihren „Lieblingsort“ zur Vermittlung der gesamten Arbeit: „Eine Ausstellung TBDWBAJ deckt die Informationen nicht bis in die Tiefe ab. Selbst bei einer vorbildlichenAusstellung (z. B. Istanbul Biennale 11, 2010) vermittelt das Ausgestellte dann plattes Wissen, wenn der Gehalt einer Arbeit nicht nachvollziehbar ist.“ Um einen Vergleich deutlich machen zu können, seien sowohl die Erzählung der Erfahrungen und Prozesse, wie auch die Diagramme und anderes visuelles Material notwendig, um „eine Form zwischen Sprache und Zeichen zu finden, die die zugrundeliegende Information genügend vergegenwärtigt.“

Das Umfeld dieses „neuen Wissens, dieser neuen Methodik“ brauche den Text, die Erzählung und die Visualisierung der Daten, um als Ergebnis funktionieren zu können. Geplant sei zudem eine Präsentation im ZKM in Zusammenarbeit mit Peter Weibel, in der das Buch im musealen Kontext „ausgefaltet“ werden soll.

Sabeth Buchmann versteht diese Vorgehensweise, da ein Buch auf vielen Ebenen rezipiert werden könne und es somit ermögliche, den „Charakter der Verknüpfung, der Vermischung, der Verflechtung“ unterschiedlicher Praktiken und Diskurse zu verdeutlichen: „Ich glaube, was dein Projekt sehr toll leisten kann und jetzt schon leistet, ist einerseits, etwas in die Diskurse und Methoden und Felder zurückzugeben, aus denen du deine tools und dein Wissen usw. bezogen hast. Und zu sagen: du hast es daraus bezogen, aber jedes einzelne Element reicht nicht, um mit diesem Phänomen umzugehen, um es abzubilden, um eine neue Artikulation herzustellen. Es braucht die Verbindung von allem.“

DER STELLENWERT DER BABY DOLLS IN TBDWBAJ

Die Projektausführungen in den Gefängnissen finden statt in Zusammenarbeit mit jeweils einer kleinen Gruppe inhaftierter drogenabhängiger Frauen, mit denen ich einerseits deren Biografien erarbeite und anderseits eine Serie identischer Porzellan-Baby Dolls produziere, die später die biografischen Sätze aussprechen, d. h. entscheidende Ereignisse aus den Leben der Biografin mitteilen (werden). Eine Serie Baby Dolls (jede Serie repräsentiert eine Biografie) wird im jeweiligen Land in einem Museum oder Kunstraum ausgestellt. Parallel dazu findet ein Expertentreffen statt, in dem sich Persönlichkeiten aus (Sub-)Kultur, Politik und Wissenschaft mit den Themen des Projektes auseinandersetzen. Anschließend werden die Baby Dolls im öffentlichen Raum der jeweiligen Stadt gedroppt (Drop Off), d. h., an den Orten ausgesetzt, die zum Lebensraum der Biografinnen gehören, und dort ohne Aufsicht hinterlassen.

(Projektbeschreibung Ulrike Möntmann)

Nach einer ausführlichen Beschreibung der Projekte, die Ulrike Möntmann seit 1997 in diversen Gefängnissen und therapeutischen Einrichtungen realisiert hat (siehe auch www.ulrikemoentmann.nl) kommt das Gespräch auf die Bedeutung bzw. den Ursprung der Baby Dolls und des Drop Offs in TBDWBAJ. Während des Projektes Kollektion Gefängnis Kleidung (1999 – 2002) ergibt sich als Resultat einer Parallel-Untersuchung der mitarbeitenden MA-Studentin Anneclaire Kersten, dass die Spielpuppe ein fehlendes Objekt im Leben der Teilnehmerinnen war. Keine der Frauen hat in ihrer Kindheit eine eigene Puppe oder ein eigenes Kuscheltier gehabt. Eine der Frauen berichtet über die Porzellanpuppen der Mutter, die sie nur in der Glasvitrine betrachten, aber niemals berühren durfte. Im Zuge des Projektes Dutch Souvenir entsteht 2002 die erste Baby Doll Serie, die unter dem Titel THIS BABY DOLL WILL BE A JUNKIE die Biografie einer Drogenabhängigen als Souvenir der Niederländischen Drogenpolitik vergegenwärtigt. Diese Arbeit bildet anschließend die Basis zur Weiterentwicklung des Projektes TBDWBAJ.

DAS OBJEKT IM VERHÄLTNIS ZUR GESAMTARBEIT UND FORSCHUNG

Die Baby Doll ist ein Träger […], sie ist kulturell und emotionell aufgeladen, sie entspricht einem idyllischen Klischee und eignet sich damit bestens als Transportmittel“, erklärt Möntmann. Die Produktion der Dolls besitze, so Möntmann, eine große Relevanz bei der Projektausführung im isolierten Raum als Ergebnis eines gemeinsamen Arbeitsprozesses. Der gesamte Produktionsvorgang, einschließlich des Umgangs mit dem Rohmaterial Porzellan, der neu zu erlernenden Gießtechnik bis hin zum Resultat, schaffe eine notwendige komplementäre Erfahrung zur theoretischen Arbeit.

Ruth Sonderegger sieht in dieser Praxis „als Art und Weise des gemeinsamen Arbeitens und Denkens“ eine „unglaubliche Artikulationsmöglichkeit“ und bezeichnet sie als eine „Reflexion von Arbeit“. Dennoch zweifelt sie am Status der Dolls während des Drop offs im öffentlichen Raum. Als isoliertes Objekt bliebe ihrer Meinung nach das Mitliefern des Kontexts der gesamten Forschung und Praxis aus: „Das Spannende bei dir ist ja, wie du Strukturen erforschst und es trotzdem extrem an einzelnen, singulären Personen festmachst“, aber in der Drop Off– Situation sei die Doll „zu sehr ein einzelnes schönes Objekt“, das so dem Projekt nicht gerecht werde. Für Sonderegger spielt die Baby Doll eine ganz präzise Rolle als Teil der diversen Zirkulation innerhalb der Arbeit und sollte daher keinen Endpunkt für die Öffentlichkeit markieren, sondern eher den Status von Arbeitsmaterial haben „wie ein Expert Meeting oder ein Zwischenergebnis, das du grafisch präsentierst.“

Sabeth Buchmann versteht die Baby Doll „… als tool, als eine Möglichkeit, etwas zu artikulieren“ und erkennt im erweiterten Sinne darin eine artikulatorische Praxis. Doch wie Sonderegger problematisiert sie deren isolierte Bedeutung: „Ich glaube es ist sehr schwer, den Status des Objektes zu rezipieren. Also, wenn das der künstlerische Output ist, […] wenn man ganz simpel da heranginge, würde man den allenfalls als Symbolisierung lesen. Und nicht als das, was er ist – weil man nämlich diese Information nicht hat – als eine Form der Abstraktion.“

DROP OFF IM ÖFFENTLICHEN RAUM – DISKUSSION UM DEN HANDLUNGSBEGRIFF BEI HANNAH ARENDT

Drop off ist der Akt der Installation von THIS BABY DOLL WILL BE A JUNKIE im öffentlichen Raum. Die Baby Dolls einer Serie werden an verschiedenen öffentlichen Orten, die zum Lebensbereich Drogenabhängiger gehören, ausgesetzt (gedroppt) und ohne weitere Aufsicht in der Öffentlichkeit zurückgelassen. Die Baby Dolls werden durch die Bewohner bzw. Besucher einer Stadt angenommen oder abgewiesen, ignoriert oder zerstört.

Wenn der Passant die Puppe ignoriert, passiert nichts.

Wenn der Passant die Puppe aufhebt, wird ihr Biografiefragment hörbar.

Wenn der Passant die Puppe umdreht, ist auf ihrem Rücken der Name und das Geburtsjahr der Drogenabhängigen zu lesen.

Wenn der Passant die Puppe zurücklegt, hört sie auf zu sprechen.

Wenn der Passant die Puppe mitnimmt, wird sich ihr weiteres Bestehen im privaten Raum des Passanten abspielen, ebenso behütet oder schutzlos, wie das Leben des Kindes innerhalb eines Familienverbandes, kaum wahrnehmbar für die Öffentlichkeit.

Wenn der Passant die Puppe zerstört, endet ihr Dasein.

(Projektbeschreibung Ulrike Möntmann)

Die Baby Doll – erklärt Möntmann – wird über den öffentlichen Raum in den unsichtbaren privaten Raum zurückgeführt, in dem ebenso unsichtbar die Übergriffe auf die Biografinnen stattgefunden haben. Da dem Finder der Baby Doll im öffentlichen Raum eine Entscheidung abverlangt wird, führe so die Konfrontation der Baby Doll mit dem Finder in jedem Fall zu einer Entscheidung, einer Handlung. Für Sonderegger ist diese Konfrontation „fast zu individualistisch“ gedacht. Und „zu wenig strukturell“. Das Drop off sei zu isoliert vom Rest der Arbeit, die als Ganzes Aufschluss gäbe über „verschiedene topographische Bewegungen, über den Zusammenhang von Missbrauch und Drogenabhängigkeit und im Knast zu landen“ und der es gelinge, eine Reibung von Strukturen und individuellen Geschichten zu erzeugen. Daher sei die individuelle Entscheidung des Bürgers in Bezug auf die ausgesetzte Puppe eher uninteressant: „Zu denken, da passiert noch etwas Wichtiges oder Entscheidendes in der Übergabe oder Rückgabe, das sehe ich nicht.“

Ulrike Möntmann bringt die Relevanz dieser eingeforderten individuellen Entscheidungen in Verbindung mit dem Begriff der „Handlung“ im Sinne von Hannah Arendt, da „gerade das Handeln die einzige Tätigkeit ist, […] in der man frei ist, eine Entscheidung zu treffen, die also nichts mit der Tätigkeit und der Beschäftigung zu tun hat, sondern die etwas verursacht.“ Weder Sonderegger noch Buchmann stimmen dieser Interpretation uneingeschränkt zu. Die Arendtsche „Handlung“ richte sich, so Buchmann, an eine Öffentlichkeit und sei keine individuelle Handlung. „Ein Einzelner, der irritiert ist, stößt keinen Diskurs an.“

Aus dieser Stellungnahme erwächst die Frage, wie das Drop off eine Öffentlichkeit produziert, bzw. produzieren könnte. Ausgangspunkt bei Arendt sei laut Sonderegger das Formulieren eines Anliegens in der Auseinandersetzung mit Anderen und sei dabei per definitionem „extrem anti-monologisch. Das Handeln eines Individuums ist kein wirkliches Handeln, […] das Kontroversielle ist bei Arendt immer verbunden mit Anderen. […] Die Macht der Öffentlichkeit ist die Macht der Handlung vieler. Es ist da, wo man es schafft, innerhalb einer Konsens-Kultur einen kontroversen Raum aufzumachen. […] Da muss eine andere Stimme sein. Eine Gegenhandlung.“

Sabeth Buchmann stellt daraufhin die Frage, „inwieweit diese Interaktion eine Öffentlichkeit im Sinne einer Kunstöffentlichkeit, einer politischen und/oder am Diskurs teilnehmenden Öffentlichkeit herstellt und wie jene die Doll rezipiert. Ich verstehe sie aus dem Produktionsprozess heraus besser denn je, aber ein Kunstpublikum wird sie wahrscheinlich als Symbolisierung von etwas oder als therapeutisches Mittel verstehen und wird sie nicht als eine eigenständige […] ästhetische Produktion anerkennen. In dem Sinn hat sie einen schwierigen Stellenwert, obwohl ich sie als artikulatorische Praxis und als etwas, das zwischen dir und den Frauen passiert, vollkommen nachvollziehbar finde. Und auch richtig und wichtig, auch was die materielle Praxis daran betrifft. Aber wenn ich mit einer Öffentlichkeit kommuniziere, müsste viel mehr mitkommuniziert werden, um diese Ebenen deutlich zu machen. In dieser anonymisierten Form gehen diese vielen Informationen einfach verloren.“

Für Ulrike Möntmann ist Nicht-Reden symptomatisch für Desinteresse, d. h. Nicht-Teilen und -Teilnehmen an gemeinschaftlicher Verantwortung und bildet somit einen wesentlichen Aspekt des Projektes. Sie erklärt mit der Präsentation der Biografien im Zuge des Drop offs im öffentlichen Raum und der Registrierung im virtuellen Raum, die Thematik zur öffentlichen Angelegenheit.

Doch auch für Buchmann bleibt die Übersetzung der Information zu abstrakt und sie schlägt – als Gedankenspiel und in Bezug auf die Entstehung des Objektes – einen Souvenirladen bzw. Museumsshop als einen geeigneten öffentlichen Raum vor: „Sie müsste eigentlich dahin, wo sie wirklich eine Störung, einen Konflikt erzeugt. […] Auf der Straße erzeugt sie keinen Konflikt, aber wenn du sie in einen Souvenirladen bringst, da erzeugt sie einen Konflikt, weil es hier einen Kontext gibt. […] ich finde es richtig, die Doll als Medium zu betrachten. Das Medium ist in dem Sinn nicht Teil der unmittelbaren Produktion, sondern Teil der Zirkulationssphäre. Dort, wo Zeichen ausgetauscht werden. Du willst ja keine Produktion, die sich auf einer Konsumptionsebene kurzschließt, sondern du willst eine Zirkulation von Zeichen und Bedeutungen. […] Die müsste auf jeden Fall auf der Ebene stattfinden, wo die Symbolik, die dem Objekt innewohnt, beheimatet ist, also der Ebene der nutzlosen Fetisch- oder Dekorationsobjekte. Und auf dieser Rezeptionsebene erzeugt sie eine Störung.“ Anschließend fragt sie, an welcher Stelle „standardisierte naturalisierte Diskurse“ eine Wendung nehmen und in etwas anderes transformiert werden können. Ulrike Möntmann betont, dass die Situation für denjenigen, der eine Entscheidung bezüglich der gefundenen Baby Doll treffe, sehr wohl Konfliktpotential berge, auch wenn sie selbst dessen Konsequenzen nicht weiterverfolge.

Der Konflikt, den man mit sich selbst austrage, ist für Ruth Sonderegger kein öffentlicher, kein politischer Konflikt, da er auf der individuellen, privaten Ebene stattfinde. Er stoße den Diskurs nicht an, sondern sorge eher dafür, dass alles bleibe wie es sei. Buchmann sieht darin die Gefahr, dass die Einzelnen in ihrer bürgerlichen Identität eher noch bestätigt würden: „Ich habe ein schlechtes Gewissen, ich betrachte jemanden hierarchisch, sehe mich in meiner besseren Position bestätigt und habe Mitleid, statt auf gleicher Augenhöhe mit jemandem in einen Diskurs einzutreten. Für mich beginnt das Öffentlich-Werden, wo Akteure strukturell – wie Rancière das nennt – in die Position eines Sprechers kommen. Wo ist das Sagbare? Sonst bleiben die Verhältnisse in ihren Positionen und nichts verschiebt sich.“

PRIVATRAUM = SCHUTZRAUM | GEFÄNGNIS = GEWALTRAUM?

Ulrike Möntmann problematisiert im Kontext dieser Analyse die Definition des Privatraumes als anerkannten Schutzraum, der sich jedoch gerade bei den Teilnehmerinnen ihres Projektes oft als Tatort entpuppt habe: „Wo hören öffentliche Interessen auf und wo beginnt dieser private Raum? Es ist ja mehr oder weniger legal, was diesen Leuten im privaten Raum angetan wird. Wie dieser Konflikt abläuft, können wir kaum formulieren. Wir brauchen und wollen den privaten Raum, aber haben wir auch das Bewusstsein, dass es sich hier potentiell um eine ausgelieferte Situation für Schutzbedürftige handeln kann? Und inwieweit muss man sich dort einmischen?“

Ruth Sonderegger sieht die Trennung zwischen „öffentlich“ und „privat“ nicht als unveränderbar festgelegte Grenze: „Das sind ja eingespielte und z. T. rechtlich kodifizierte Grenzen. […] Auch ist vielleicht nicht ausgeschlossen, dass manchmal ein Privatraum ein Schutzraum ist. Dass man das in mancherlei Hinsicht so ja auch will. Aber das Erste, was für mich sehr wichtig wäre, ist, dass man noch etwas bewegen kann. […] Ich denke, im bürgerlichen Privatraum […] gibt es unter Umständen Möglichkeiten, Teile öffentlich zu machen; z. B. Gewalt in der Ehe oder Kinderrechte. Dagegen ist der Knast als Privatraum so zu-kodifiziert und überinstitutionalisiert, dass es viel schwerer ist, etwas aus diesem Raum hinaus zu tragen, was du aber ja zum Teil tust. Und deswegen wäre es für mich auch wahnsinnig wichtig, politisch wichtig, aus dem Knastraum Informationen, Wissen hinaus zu bringen und zu zeigen, dass es sich bei den sog. Fällen nicht um individuelles Fehlverhalten handelt, sondern dass eine Struktur sichtbar wird. […] Es gibt sowieso keine in Stein gemeißelten Grenzen zwischen öffentlich und privat. Ich glaube, es ist gut, dass es beides gibt, aber das kann man verhandeln. Nur für mich sind die Räume, die man fast gar nicht verhandeln kann, wie Knäste, die geballte Gewalt. Eine Gewalt, die überhaupt keine Gegenartikulation zulässt. Und allein, dass man da so wenig hinaus transportieren kann, zeigt, was das für ein Gewaltraum ist.“

Transkription und Text: Nina Glockner