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AMSTERDAM EXPERT MEETING - SERIE HESTER VAN DE BEUKEN

INTERDISZIPLINÄR II

20 September 2007, Amsterdam

TEILNEHMER:INNEN

Carolien Gehrles, Politikerin, Gesetzgebendes Institut für Kultur, Amsterdam, Niederlande
Jonas Staal, Bildender Künstler, Rotterdam, Niederlande
Ruud Kaulingfreks, Philosoph, Amsterdam, Niederlande
Greet Kuipers, Psychiaterin, Amsterdam, Niederlande

Panel W139. Skizze: Yvonne van Versendaal

Eine Debatte über die Effektivität der Einmischung in gesellschaftliche Fragen mit den Mitteln der bildenden Kunst in Kunstraum W139 in Amsterdam

Gijs Frieling und Marjolein Schaap leiten das Panel. Zu den Experten auf dem Podium kommen die Experten im Saal und im Publikum hinzu. Es besteht aus Vertreter_Innen verschiedener Kunstrichtungen, des allgemeinen Gesundheitswesens und desjenigen, das sich mit Suchtbehandlung befasst, wie auch aus VertreterInnen verschiedener Sozialwissenschaften und politischer Fachbereiche.

Schaap spricht einleitend über Emmanuel Levinas Theorie des ›Anderen‹: »Der Andere ist mir immer fremd und kann nicht auf das Selbst zurückgeführt werden, aber doch kann das Andere mich treffen und bewegen, mich über meine Position hinausführen.«

Das Private, das Selbstzentrierte, brauche als Gegenpol Öffentlichkeit, Solidarität, Verantwortlichkeit. Stärker ausgedrückt, nach dem Scheitern der ›Großen Erzählungen‹ (Lyotard)[1] bleibe uns als letzte Wahrheit nur die unantastbare Würde des Anderen, bleibe nur noch das ethische Anliegen.[2]

Positionen und damit verbundene Fragen über die Entwicklung von Perspektiven werden zur Diskussion gestellt: Wie verhalten wir uns in Bezug auf Kriterien, die wir noch nicht kennen oder eigentlich nicht begreifen? Wie effektiv und wie legitim ist die Intervention in gesellschaftliche Themen mit den Mitteln der bildenden Kunst? Wie kann das Eingreifen, das Handeln definiert werden und welche Konsequenzen hat es für den Künstler, die Künstlerin und für ein—möglicherweise unerwartet—einbezogenes Publikum? Welche Verantwortungen werden von wem übernommen, wem auferlegt?

Es wird weiter über den Begriff ›Die Würde des Anderen‹ gesprochen und überlegt, wie die Trennung von Privatem und Öffentlichem, die als soziales Konstrukt betrachtet wird, verhindert werden kann.

Der Behauptung, dass die Gruppe der Drogenabhängigen von der Gesellschaft per se ausgeschlossen sei, wird von dem einen Teil der Expert_Innen im Publikum abgewehrt. Es gebe eine Reihe von Hilfsangeboten und Institutionen, die die Gesellschaft finanziere und die ihnen als Teilhabende an der Gesellschaft gewährt würden.[3]

Dem widersprechen ARTA- und MDHG-Klient_Innen und Betreuer_Innen, die Praxis ließe erheblich zu wünschen übrig und nicht alle Aspekte der Problematik seien darin berücksichtigt. Frieling verlässt mit dem Mikrofon das Podium um die dazwischenrufenden ExpertInnen im Publikum in das Gespräch einzubeziehen. Neben anderen weist Hans Kassens auf die Situation nach der Gesetzesnovelle hin, deren Konsequenzen noch nicht in das öffentliche Bewusstsein vorgedrungen und nicht lange genug erprobt sei, weshalb zur Zeit darüber nur spekuliert werden könne. Er führt aus, dass die davor geltende Gesetzgebung in den Niederlanden immer schon ebenso eindeutig gewesen sei wie in den Nachbarländern und die strafrechtliche Verfolgung von DrogenkonsumentInnen vorgeschrieben habe, die jedoch unterlassen worden sei. Die daraus folgende Win-Win-Situation, die sich aus der stillen Duldung ergeben habe, sei ebenfalls allgemein bekannt: Dadurch, dass der Staat es vorgezogen habe, die Suchtkranken medizinisch zu versorgen, seien ihm eine hohe Anzahl von sinnlosen und kostenintensiven Gefängnisaufenthalten der Betroffenen erspart geblieben und seit den 1990er Jahren sei die Anzahl der Drogentoten massiv gesunken.

Die konfrontative Diskussion im Saal, bemerkt ein ARTA-Klient, entspräche dem Zeitgeist. Seit Anfang der 2000er Jahre sei der Drogenkonsum immer mehr mit der Drogenbeschaffungskriminalität gleichgesetzt und als schädlich für die Wirtschaft in den Niederlanden erklärt worden. Angeblich sollten davon insbesondere die Einnahmen aus dem Tourismus in Amsterdam, Rotterdam und Den Haag betroffen sein.

Er hält das für Ausflüchte und rechnet den angeblich von der Allgemeinheit geforderten Wunsch nach ›normen en waarden‹ (Normen und Werten), nach Problemverdrängung anstelle nerviger und teurer Lösungsangebote, dem Einfluss der neuen Rechten zu, die widerspruchslos von der Regierung übernommen worden sei. Überhaupt sei allgemein in Europa mit dem Erstarken der reaktionären Bewegungen eine Tendenz zu null Toleranz festzustellen und speziell in den Niederlanden eine neue ›Anti-Gedogen-Haltung‹.

Eine Expertin aus dem Publikum ergänzt, nicht nur in Amsterdam, sondern auch in Zürich, Wien, Berlin und anderen europäischen Städten käme es zu einer ›Säuberung‹ der Innenstädte. Normen würden als standardisierte Vorgaben begrüßt, an die die Menschen anzupassen seien, zitiert sie Foucault.[4]

Die Politikerinnen Carolien Gehrles und Marieke van Doorninck bestätigen, dass ein Umdenken in der Drogenpolitik stattgefunden habe, weil sie insgesamt an Gesamt-Europa angepasst werden sollte. Wie z. B. die ›ISD-strafmaatregel‹[5] für sogenannte ›veelpleger‹, Wiederholungstäter. Von 2000 bis 2002 wurde der Gesetzesvorschlag geprüft und 2004 als Gesetz verabschiedet. Demnach kann ein Schwarzfahrer, der zehnmal erwischt und registriert worden ist, mit dem Ziel der Umerziehung zu zwei Jahren Gefängnishaft verurteilt werden.

Greet Kuipers, die Psychiaterin im Panel, und die Beauftragten diverser Hilfsorganisationen beklagen, dass mehr oder weniger alle Maßnahmen, wie auch ISD, auf das Profil drogenabhängiger Männer zugeschnitten sei, aber auch bei drogenabhängigen Frauen angewendet würde. Gestützt auf ihre Erfahrungen, heben sie die dringende Notwendigkeit hervor, dass für die Frauen genderspezifische Behandlungsrichtlinien formuliert und angewendet werden müssten. In der Praxis jedoch wird dieser Vorschlag nicht verfolgt, da diese Frauen, die insgesamt nur einen Anteil von 4 bis 5 % aller Drogenabhängigen stellen, laut Ministerium nur ›eine vernachlässigbare Minderheit‹ seien.

Vertreter_Innen des MDHG bringen als wichtiges Beispiel, dass vor allem die weiblichen Junkies auf dem Nieuwmarkt, dem Zeedijk und De Wallen kaum mehr unterwegs und für sie schwerer erreichbar seien: »Obwohl illegale Prostitution ein Vergehen ist, werden die Frauen meistens nicht strafrechtlichverfolgt, sondern von der Polizei weggejagt. Damit verschwinden sie aus dem öffentlichen Blickfeld. Was es für die Frauen jedoch für Folgen haben kann, in Tippelzonen abgedrängt zu werden wie z. B. in menschenleere Hafengebiete ohne soziale Kontrolle und Schutz, wird ignoriert.«

Nach fast drei Stunden des lebhaften Austausches von Expertenwissen, persönlichen Erfahrungen und Meinungen, wird die Diskussion offiziell beendet und setzt sich in privaten Gesprächen in der Ausstellung noch lange weiter fort.

Ich fühle mich nach der Diskussion an Sloterdijks [6] Kommentare zur Globalisierung erinnert. Welche Konsequenzen hat eine Intervention in den ›gesäuberten‹ Menschenpark mitten in unserer Komfortzone? Der Humanismus, den jeder als gegeben annimmt und als seinen Besitz betrachtet, muss immer wieder neu bestätigt und erarbeitet werden, wie uns die Zeitgeschichte gezeigt hat.

Interventionen in gesellschaftlich sensible Themen scheinen mir eine Möglichkeit dazu zu sein. Wenn die gezähmte Welt der konsumierenden BildungsbürgerInnen sowohl Stress als auch Langeweile verursacht, werden diese zwei Grundtöne des Seins immer Diskrepanzen in der Verständigung erzeugen, eine Stimmung der chronischen Ambivalenz, changierend zwischen Alarmbereitschaft und Ruhigstellung. Eine Ruhigstellung, die einen der Künstler auf dem Podium zu dem Entschluss bringt, lieber einem Junkie in seiner Wohngegend ab und zu 25 Cent geben zu wollen, als den Aufwand eines solchen Projektes zu betreiben.

Expert Meeting, W139, Amsterdam

Dieses Expert Meeting fand im Rahmen der Gruppenausstellung Love is like Oxygen in W139, einem von Künstler:innen initiierten und geführten Produktions- und Präsentationsraum in der Innenstadt von Amsterdam – statt.

Die Ausstellung Love is like Oxygen ist Teil des Projektes Liefde in de Stad (Liebe in der Stadt): Im Rahmen dieses Projektes lädt Paradiso Amsterdam seit 2003 jährlich Künstler_Innen, Wissenschaftler_Innen, Schriftsteller_Innen und Musiker_Innen dazu ein, Kreativität zur Förderung von Liebe im urbanen Raum einzusetzen. „Es geht nicht um romantische Liebe“, so Lisa Boersen (Paradiso), „sondern um Liebe als Gegenstück zur Angst. Die Art der Liebe, die das Zusammenleben auf engem Raum so viel positiver macht.“ Liefde in de Stad erforscht mit unorthodoxen Methoden an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft das menschliche Verhalten in urbaner Kultur und die Art, wie dieses (positiv) beeinflusst werden kann.

Gijs Frieling, damaliger Direktor W139, schreibt: „Die Stadt ist der Ort, an dem alles vermenschlicht ist. Wo die Natur, mit Ausnahme des menschlichen Körpers, fast vollständig verbannt wurde. Die Stadt bringt das Beste und Schlimmste des Menschen zum Vorschein. Liebe ist eine Kraft, die nur Bedeutung hat, wenn sie von einem freien Herzen gegeben wird. In der Kunst scheint die Freiheit selbst manchmal zum ultimativen Ziel geworden zu sein. Diese Selbstbestimmung ist potenziell eine Pforte zur Weiterentwicklung, die es Künstler_Innen ermöglicht, verbindliche Beziehungen zu Menschen und Ideen einzugehen. Einige der Künstler_Innen in dieser Ausstellung scheinen diesen Schritt gemacht zu haben.“

Partizipierende Künstler:innen: Arno Coenen, Erin Dunn, Gil & Moti, Saskia Janssen, George Korsmit, Ulrike Möntmann, Jonas Ohlsson, Joel Tauber.

[1] Vgl.: Peter Engelmann (Hg): Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 2009. Für Jean-François Lyotard (1924–1998) korrespondiert das Scheitern des bisherigen Projektes der Moderne mit dem Scheitern der großen Metaerzählungen der Moderne. Diese Erzählungen diskreditieren sich selbst, weil sie nicht in der Lage sind, die Werte der Moderne zu realisieren—im Gegenteil: Die Großen Erzählungen führen zu Terror und Vernichtung, da ihr ›Verlangen nach einer einheitlichen und totalisierten Wahrheit‹ auf einem Herrschaftsanspruch über die Gesellschaft beruht, der Heterogenität negiert. Es handelt sich bei den Großen Erzählungen um allumfassende Ideen, die Gesellschaft als ein abstraktes Modell zu konstruieren. Lyotard sieht die Anerkennung von Heterogenität und Individualität dadurch verletzt; die Normativität der modernen Erzählungen und die damit einhergehende Entwertung des Heterogenen führe zur Liquidation der Idee der Moderne.
[2]Aus einem Artikel über Emmanuel Levinas von Jan Keij: Plaats en voorbij-de-plaats, wonen en tijd bij Emmanuel Levinas (1906–1995). Kunst en Wetenschap, Nr. 2, 2004. Keij bezieht sich auf Levinas Kernthese, nach der das menschliche Ich die ›eigentliche Würde‹ erst dann erlangt, wenn es ›Verantwortung für den anderen Menschen‹ übernimmt. Dazu wird es berufen von ›einem Gott‹, der sich ›im Gesicht des anderen Menschen‹ offenbart, im ›Antlitz‹ jenes ›Anderen‹, der einzigartig ist und dessen Sterblichkeit jedermanns Zuwendung erfordert.
[3]Zu Beginn hatten hauptsächlich lokale Hilfsorganisationen ihre Direktmaßnahmen vorgestellt, wie beispielsweise die niederschwellige, tägliche Versorgung mit Substitutionsmitteln in ›methadonbussen‹, d. s. ausrangierte Stadtbusse an öffentlichen Haltestellen. In sogenannten ›spuitruimtes‹ (Spritzzimmern / Fixerräume) können Drogen hygienisch und privat konsumiert werden. Die ersten ›Fixerstüblis‹ wurden in Zürich bereits 1986 eingeführt; die Schweiz und die Niederlande sind sich bis heute nicht darüber einig, welches von beiden Ländern als erstes versucht hat, progressive Lösungen zu entwickeln und zu etablieren. Es wurden neue Therapieansätze diskutiert und erprobt, wie zum Beispiel, wenigen unheilbaren oder todkranken Drogenabhängigen in Amsterdam gratis Heroin zu verabreichen—eine Maßnahme, die europaweit als vorbildlich galt. 1999 wurde in Rotterdam die erste Einrichtung eines Pflegeheims für unheilbar erkrankte Alt-Junks eröffnet. Was in den Nachbarländern als Akt der Menschlichkeit bewundert wurde, galt in den Niederlanden als realpolitische Maßnahme. Aus den operativ agierenden Hilfsorganisationen entwickelten sich interdisziplinär arbeitende Institute, die im Dienste der Volksgesundheit das Problem Drogenkonsum nun gezielt untersuchen und Lösungsvorschläge unterbreiten sollten. Wesentlich dazu beigetragen hat das Trimbos-Institut, entstanden 1996 und benannt nach seinem Gründer, dem Psychiater Kees Trimbos (1920–1988). Zitat: .[…] Umfang und die Art der psychischen (Un)Gesundheit ist eine der größten Herausforderungen unserer Gesellschaft in der Evolution.. Kees Trimbos, Antrittsrede 1969. In: sociale evolutie en psychiatrie. Auszug, U. M., übersetzt und red. gekürzt: https: // www.trimbos.nl / over-trimbos / organisatie
[4] Die ›disziplinarische Normalisierung‹, sagt Foucault, ›ist der Entwurf eines optimalen Modells, die Operation der Disziplin besteht darin, die Leute an dieses Modell anzupassen‹. Vgl. R. Anhorn, F. Bettinger, J. Stehr (Hg), Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit. Wiesbaden 2008.
[5] ›Inrichting voor Stelselmatige Daders‹ (ISD) betrifft TäterInnen, die sich wiederholt mit kleinen Delikten, wie Ladendiebstählen im Wert von ein paar Euro, schuldig machen.
[6] Vgl.: Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben auf Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt am Main 1999. Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt am Main 2005.

Transkript und Zusammenfassung: Nina Glockner