TEILNEHMER:INNEN
Ulrike Möntmann, Künstlerin, Amsterdam, Niederlande, und Wien, Österreich
Rebecca Mertens, strafrechtlich Verurteilte, Vechta, Deutschland
Bei diesem Komplizinnentreffen setzen Mertens und Möntmann ihren seit 2001 stattfindenden Dialog über das Leben in Drogenabhängigkeit und Verurteilung zu Gefängnisstrafen-im-Drehtüreffekt fort. Ihre gemeinsame Forschungsarbeit wurde von der Anstaltsleitung und dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen genehmigt und dient der Analyse bzw. dem Aufzeigen der Zusammenhänge zwischen Straftaten und juristischen und gesellschaftlichen Folgen im Leben drogenkranker Frauen.
WORKSHOP MIT REBECCA MERTENS
Rebecca Mertens wird zwar nicht von der Pflichtarbeit freigestellt, wir können aber täglich ab 13:30 bis zum Einschluss um 19:00 Uhr im Behandlungsraum des Werkbereiches zusammenarbeiten. Am Wochenende und falls sie nicht arbeiten müsse, könnten wir bereits am Vormittag beginnen. Die Arbeit darf unbeaufsichtigt stattfinden. Ich bekomme bei Antritt an der Pforte ein Mobiltelefon, um mich gegebenenfalls melden zu können, bzw. um mich abholen zu lassen. Rebecca erklärt mehrmals schriftlich, mir die Einsicht in alle vorhandenen Akten über sie zu gewähren. Helmut König liefert die gefragten Akten, die teilweise im Keller gesucht werden müssen. Ich solle angeben, welche Papiere kopiert werden müssten, das mache er dann.
Rebeccas Daten befinden sich in verschiedenen Administrationssystemen, in unterschiedlichen Typen Akten, angefangen bei handschriftlichen und mit Schreibmaschine getippten ausführlichen Beschreibungen von Straftaten, bis hin zur digitalen Auflistung der angewendeten Paragrafen. Im Laufe des Tages stapeln sich auf zwei Tischen verstaubte, verblichene rosa JVA-Mappen mit losen Papieren. Ich werde Tage brauchen, um die Akten zu sichten und zu entscheiden, welche Papiere kopiert werden sollen.
Ziel der Zusammenarbeit ist es, die Straftaten, die richterlichen Entscheidungen, die Anwendung von Gesetzen und Paragrafen und die tatsächlichen Haftperioden zu betrachten, um diese den Ereignissen, die Rebecca in ihrer Biografie benannt hat, gegenüber zu stellen. Mich interessiert zunächst, was der Begriff ›Beschaffungskriminalität‹ alles enthält und in welchem Verhältnis Tat und Strafmaß stehen. Welche Fakten zum sogenannten ›Drehtüreffekt‹ führen.
Um die Straftaten zu inventarisieren, habe ich riesige Tabellen mit Kategorien vorbereitet. Wir listen Rebeccas (Straf)Taten auf und spezifizieren erstens, in welchem gesellschaftlichen Raum sie stattfanden (privat, öffentlich, isoliert); zweitens, um welche Objekte, welchen Wert es sich bei Diebstahl und Raub handelt; drittens, ob die Tat geahndet wurde; viertens, zu welcher Strafe die Tat führte (keine, Intervention durch Behörden, Verwarnung, Anzeige, Strafverfolgung, Verurteilung, Haft) und fünftens, welcher Institution sie übergeben worden ist (keine, Heim, Jugendarrest, Jugendgefängnis, Gefängnis – zur Bewährung, in den halboffenen oder geschlossenen Vollzug) und wo die Strafe verbüßt wurde.
In die Tabellen setze ich die Oberbegriffe von Straftaten: Einfacher Diebstahl, Schwerer Diebstahl, Raub, Räuberische Erpressung, Straftaten gegen die Umwelt, Sachbeschädigung, Körperverletzung, Straftat gegen das Leben, Sexualdelikt, Rauschgiftdelikt, Betrug, Straftat gegen die persönliche Freiheit. Ich füge auch Prostitution als indirekte Straftat hinzu, weil sich die Gesetzgebung während der letzten 20 Jahre in Bezug auf Faktoren wie Altersgrenzen, Definition, Bedingungen der (Straf-)Mündigkeit und Legalität verändert hat. Dass Rebeccas Sexarbeit immer illegal ist, da sie nicht als Prostituierte registriert ist und über kein Gesundheitszeugnis verfügt, ist klar, aber die spezifische Sachlage ist zu diesem Zeitpunkt zu komplex, um genau sagen zu können, mit was wer sich wann schuldig macht. Ich werde dazu später die Gesetzestexte prüfen lassen müssen. Jetzt halte ich mich lediglich an Rebeccas Angaben. Uns fehlt der Platz auf dem A0-Format, um allein die geahndeten (nur 10 %) der begangenen einfachen Diebstähle einzutragen. Mit den weiteren Vergehen ist es einfacher: Eine Verurteilung wegen schweren Diebstahls, einmal wegen Raub, einmal Körperverletzung, zweimal Rauschgiftdelikte.
Auf einem anderen Blatt mit denselben Koordinaten gibt Rebecca die (Straf-)Taten an, die an ihr verübt worden sind: Von ihrem ersten bis zum 11. Lebensjahr chronische Körperverletzung, im ersten Lebensjahr – mit Fragezeichen – Sexualdelikt(e), vom neunten bis zum 14. Lebensjahr regelmäßige Sexualdelikte.
Wir setzen uns mit dem Thema Vertrauensperson und dem Geschäft mit Sex im Gefängnis auseinander, juristisch definiert als ›Ausnutzung Schutzbefohlener‹. Auf diesem Gebiet bleibt Rebecca stur, die sexuellen Handlungen mit der Vertrauensperson im Gefängnis sieht sie nicht als eine Straftat, die gegen ihren Willen stattfand. Erst nachdem ich ihr den Gesetzestext vorlese, fügt sie – ungern – die Deals mit der Vertrauensperson als Sexualdelikte zwischen dem 18. und 24. Lebensjahr hinzu. Auf diesem Blatt bleibt die Rubrik ›Konsequenzen | Verurteilungen‹ leer.
In einer weiteren Tabelle listen wir die Art der Drogen, der Medikamente und des Alkohols auf, die Rebecca bis jetzt konsumiert hat, daneben stehen Angaben zur Diagnose, der Situation und in die dritte Spalte kommen die Dosierungen und der Mengenbedarf. Nach dem Feststellen der Menge können wir die Kosten, bzw. den jeweiligen Marktwert berechnen, wobei diese in verschiedenen gesellschaftlichen Räumen variieren: Heroin kostet im Gefängnis ungefähr das Doppelte vom Straßenpreis. Wir kalkulieren und vergleichen Einkommen und Ausgaben.
Vgl.: Ulrike Möntmann THIS BABY DOLL WILL BE A JUNKIE – Kunst und Forschung: Projektbericht über Abhängigkeiten und Gewalträume. Einführung: Peter Weibel. Erschienen in der Edition Angewandte, De Gruyter, 2018, Seite 313 – 314.