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SOLIDARITÄT UND GESELLSCHAFTLICHE WERTEKONFLIKTE

PSYCHOLOGIE | PSYCHIATRIE III

02 März 2015, WIEN

TEILNEHMER:INNEN

Nina Glockner, Künstlerin, Amsterdam, Niederlande, und Wien, Österreich
Ulrike Möntmann, Künstlerin, Amsterdam, Niederlande, und Wien, Österreich
Corinna Obrist, Psychologin und Psychotherapeutin, Frauenabteilung, JA Favoriten, Wien, Österreich
Shird-Dieter Schindler, Psychiater, Leiter des Sozialmedizinischen Zentrums Baumgartner Höhe, Zentrum für Suchtkranke, Wien, Österreich

Beim dritten Komplizinnentreffen der Psychologie/Psychiatrie trifft Ulrike Möntmann erneut auf die Psychologin und Psychotherapeutin Mag. Phil. Corinna Obrist, u. a. tätig in der JA Wien Favoriten* und den Psychiater Prim. Dr. Shird-Dieter Schindler.

FRAUEN- UND MÄNNERVOLLZUG IM VERGLEICH

Zu Beginn des Gespräches blickt Corinna Obrist zurück auf ihre langjährige Arbeitserfahrung im Frauenvollzug und sieht dort einige ihrer Ziele erreicht. Gerade in der Arbeit mit jungen Kolleginnen der JA ist es Obrist wichtig, die große Bedeutung von Engagement und Solidarität unter Frauen in einer Männergesellschaft zu vermitteln. So könnten – trotz der Bedingungen des Vollzugs und der impliziten Machtposition der Therapeut_innen – eine Solidaritätsgemeinschaft und ein gemeinsames Verständnis entstehen, die u. a. auch vor Frustrationen schützten: „Die Frauen, die mit Frauen arbeiten […] tun das mit großem Engagement und sind auch interessiert, die geschlechterspezifischen Phänomene zu durchschauen. Und Ungerechtigkeit ist für sie auch ein Thema. Es macht die Arbeit erträglich, wenn man von sich die Idee hat, man geht über diese Anpassungsmaschinerie von Psychotherapie hinaus und es geht um etwas viel Wichtigeres, nämlich das Ungerechte. […] Es geht auch darum, sich mit den Insassinen zu komplizieren und um das Wissen, dass es eine Gemeinsamkeit gibt, unausgesprochen, denn Frauen sind wir alle.“

Der Frauenvollzug bleibe trotz widriger Umstände, wie den Folgen von Umstrukturierungen, autonom vom Männervollzug und sei in der Therapiearbeit im Vergleich weitaus stärker. Dieses ließe sich auch, so Obrist, mit der Neigung von Männern erklären, sich schneller zu fraternisieren, Subkulturen zu etablieren und somit gegen die therapeutischen Strukturen des Wohngruppenvollzugs zu arbeiten. Frauen hingegen seien oftmals „brüchiger“ und somit offener für einen therapeutischen Zugang.

Ulrike Möntmann bringt als Gedankenspiel die Frage ein, wie sich die Situation darstellen würde, wenn das Mengenverhältnis im Gefängnis umgekehrt, also die Gruppe der weiblichen Inhaftierten größer wäre. Im Gefängnis herrsche, führt Obrist aus, eine „Dominanz- und Mehrheitskultur“ und die Justiz an sich sei ein männlich geprägtes System, so würde es schon von der Justizwache repräsentiert. Wenn Männer die Minderheit im Gefängnis stellen würden, wären sie vielleicht „vorsichtiger“, aber im Ganzen bliebe die Wirkungsmacht der Männergesellschaft im Allgemeinen bestehen, „… so dass Männer sich auch in der Minderheit immer ein Stück mehr erlauben können. […] Die Frauen könnten sich untereinander vielleicht etwas mehr ausleben. […] Aber die Dominanzkultur wird von Männern bestimmt und getragen und Frauen sind da sozusagen Mitläuferinnen, Zuträgerinnen, manchmal Rebellinnen, Miterhalterinnen.“

EUROPAWEITER PSYCHIATERMANGEL

Dass europaweit Mangel an Psychiatern herrscht, kommt über die aktuelle Diskussion zur Umsetzung eines neuen Arbeitszeitgesetzes für Ärzte in Österreich zur Sprache. Gerade im Vollzug sei die Versorgung schlecht. Corinna Obrist erwähnt, dass es in der JVA Favoriten nur einen Psychiater gäbe, der sich etwa einmal im Monat die kritischen Fälle anschaue: „Das hat zur Folge, dass viele Leute vom Zugang gleich wieder weggeschickt werden, weil sich das Personal nicht zutraut, mit ihnen umzugehen und hier also eher ängstlich, unsicher, vermeidend reagiert.“ Mögliche Ursachen für den generellen Mangel an Psychiatern sei die sehr lange, im Schnitt 15 Jahre dauernde Ausbildungszeit und der im Verhältnis zu anderen Ärzten geringe Verdienst für eine Arbeit mit Patienten, die „nicht die einfachsten“ seien. Zumindest im Vollzug sei die Rolle des Psychiaters risikobehaftet und Gefährlichkeitsprognosen, die sie für Patienten erstellten, hätten, so Obrist, oft schwerwiegende Konsequenzen. Auch Shird Schindler bestätigt dies: „Früher hat es Studien gegeben, die besagt haben, ein Psychiater sei um keinen Deut besser als jeder andere Bürger bei der Vorhersage über die Entwicklung des Patienten. Das Instrumentarium hat sich verbessert und ist überarbeitet, so dass es statistisch zumindest gegenüber dem der Laien überlegen ist.“

GESELLSCHAFTLICHE WERTEKONFLIKTE – FUNKTIONALITÄT ALS BEHANDLUNGSZIEL?

Doch auch die Auswirkungen des Neoliberalismus auf das Feld der Psychologie und Psychiatrie spielen in diesem Zusammenhang eine große Rolle: Ausbildung, Praxis und Zielvorstellungen der Behandlungen sind von Einsparungen und gesellschaftlichen Wertekonflikten betroffen: „Da gibt es die Idee des neoliberalen Menschenbildes, die sollen sich zusammenreißen, die sollen einfach arbeiten und Ruhe geben. Und so ‚softe‘ Berufsgruppen wie Psychiatrie, Psychologie verkommen zum Anpassungsmittel. […] Das ist zumindest im Ansatz das, was in den Ausbildungen gelehrt wird“, sagt Corinna Obrist. Die Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge und Strömungen – „… dass etwas hergestellt wird, wo es Gewinner und Verlierer gibt und wie“ – sei kein Bestandteil des Curriculums. Corinna Obrist diagnostiziert eine extrem hohe „Anpassungs- und Ausbeutungsbereitschaft“ im Allgemeinen und erkennt dies auch bei den Psychologinnen der JVA: „Frauen dressierendie Frauen, damit sie gut in die Dominanzkultur passen. […] Wann ist jemand gesund, wie viel braucht es, dass eine Heilung, eine Linderung, eine Besserung anerkannt wird?“

Ulrike Möntmann hinterfragt die gesellschaftlich akzeptierten Kriterien hinsichtlich einer erfolgreichen Behandlung und vermutet, dass eine relative Besserung des Menschen nicht genüge, sondern die Funktionalität eines Menschen zum Standardprüfstein werde. In Bezug auf die immensen Einsparungen im Bereich der Suchthilfe sieht Ulrike Möntmann einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Drogenproblematik, „… die eine der Randgruppen der Gesellschaft repräsentiert“ und einem systematisch angezielten “Unsichtbarmachen der Randgruppen in Innenstädten.“

Schindler bestätigt, dass die verordneten Sparmaßnahmen aufgrund der Finanzkrise vor allem die Bereiche ohne starke Lobby träfen, also die Randgruppen. Die veränderten Rahmenbedingungen erschwerten die Qualitätsarbeit massiv und das Erhalten eines funktionierenden Angebotes werde so mehr oder weniger der Eigeninitiative der Mitarbeiter überlassen: „Viele gute Einzelinitiativen werden jetzt blockiert, es wird sehr eng. Dass es die zeitintensive Qualitätsarbeit ist, die die Leute weiterbringt, ist offenbar schwer zu begründen.“

*Die Justizanstalt Wien-Favoriten „hat einen Behandlungsauftrag für jene Straftäter/innen, die im Zusammenhang mit dem Konsum von berauschenden Substanzen ein Delikt begangen haben und durch ein Strafgericht eingewiesen wurden (§ 22 Strafgesetzbuch). Außerdem können sich auch Strafgefangene anderer Justizanstalten auf eigenen Wunsch um eine Aufnahme zur Suchtbehandlung bewerben (§ 68a Strafvollzugsgesetz).“ Zum Weiterlesen siehe die offizielle Seite der Justizanstalt.

Transkription und Text: Nina Glockner