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BEHANDLUNG UND UMGANG MIT SUCHT – EINE ENTWICKLUNG

PSYCHOLOGIE | PSYCHIATRIE II

12 Juni 2014, Wien

TEILNEHMER:INNEN

Nina Glockner, Künstlerin, Amsterdam, Niederlande, und Wien, Österreich
Ulrike Möntmann, Künstlerin, Amsterdam, Niederlande, und Wien, Österreich
Corinna Obrist, Psychologin und Psychotherapeutin, Frauenabteilung, JA Favoriten, Wien, Österreich
Shird-Dieter Schindler, Psychiater, Leiter des Sozialmedizinischen Zentrums Baumgartner Höhe, Zentrum für Suchtkranke, Wien, Österreich

Zeitnah zum ersten Treffen der Psychiatrie/Psychologie findet eine neuerliche Begegnung mit Prim. Dr. Shird-Dieter Schindler statt, diesmal im Gespräch mit der Psychologin und Psychotherapeutin Mag. Phil. Corinna Obrist, die u. a. in der JVA Wien Favoriten tätig ist, einer Sonderanstalt mit Behandlungsauftrag für Strafgefangene mit Suchtproblematik*.

BEHANDLUNG UND UMGANG MIT SUCHT – EINE ENTWICKLUNG

Shird Schindler teilt die Entwicklung des Umgangs mit Sucht rückblickend in vier Phasen ein: Während in den 1980er Jahren noch die Heilungskonzepte im Vordergrund stehen, verschiebt sich in den 1990er Jahren mit dem Einsatz von Substitution der Schwerpunkt auf die Behandlungskonzepte. Die 2000er Jahre sind seiner Meinung nach von der ernüchternden Erkenntnis gekennzeichnet, dass beide vorherigen Konzepte keine wirkliche Lösung erbracht hätten. Die gegenwärtige Situation, in den 2010er Jahren, beschreibt er als einen Rückzug. Man sei zu einer realistischeren Einschätzung gekommen, die „Sucht“ als chronische Krankheit zu betrachten. Der Umgang mit Sucht als chronischer Krankheit erfordert nach Meinung des Psychiaters „… eine phasenadäquate individualisierte Behandlung. […] Ich brauche für jede Phase der chronischen Krankheit eine passende Interventionstiefe und adäquate Angebote. Diese Angebote zu differenzieren, […] ist die Aufgabe, vor der wir jetzt stehen.“ Ein Vorteil liege im nun erweiterten Spektrum der anerkannten Therapieformen. Corinna Obrist schließt sich dieser Auffassung an und plädiert für die Anerkennung dieser Vielfältigkeit (Diversity) und die Reduzierung eigener therapeutischer Ansprüche, die oft von „gutbürgerlichen Vorstellungen“ geprägt seien.

Das Einbeziehen eines gender-spezifischen Konzeptes ist ihrer Meinung nach ein wichtiger Aspekt dieser individualisierten Behandlung. Es gebe, so Obrist, in den einschlägigen Ausbildungseinrichtungen (Universität, Therapie-Ausbildungsinstitutionen u. ä.) keine längsschnittgemäße Verankerung der gender– und queer-Thematik. Die Zuschreibungen der Geschlechterrollen würden sich auch in der Suchtentwicklung niederschlagen und müssten somit unbedingt auch bei Behandlungskonzepten und -modellen berücksichtigt werden, vor allem hinsichtlich der Ausstiegsangebote.

SUBSTITION ALS LEIDLINDERUNG?

Die Auffassung von Sucht als chronische Krankheit ruft komplexe gesellschaftliche und fachspezifische Fragen auf, die sich u. a. auf den Umgang mit Substitution und die Zielsetzungen von Behandlungen und der Prävention beziehen. Warum, gibt Obrist zu bedenken, müsse z. B. bei der Substitution bzw. Medikation von Abhängigen, immer auch ein Veränderungswille der Betroffenen vorhanden sein? Schwer traumatisierten Menschen könne ja ein Recht auf chemische Linderung ihrer Schmerzen unter menschenwürdigen Bedingungen zugestanden werden, ohne dass bei ihnen immer ein Wille zur Veränderung vorausgesetzt werden müsse. Gleichzeitig sollten individualisierte Ausstiegsangebote formuliert werden, die unterschiedlich hoch- und niederschwellig seien: „Darf ich mich nicht einfach nur dämpfen, um den Schmerz nicht mehr zu spüren, ohne dass ich sonst auch noch etwas wollen muss oder so tun muss, als ob ich etwas wollte und trotzdem ein würdevolles Leben haben?“

Während Corinna Obrist in diesem Zusammenhang auch eine stärkere Entkriminalisierung einfordert, tendiert Shird Schindler eher dazu, die akzeptierten legalisierten Rauschmittel zu reduzieren, statt die härteren Drogen zu legalisieren. Dabei spielt für ihn Prävention eine wichtige Rolle: „Ein frühes Erkennen und Behandeln von Leid, um Suchtmittel nicht zu benötigen.“

KONTROLLE, INNERER FREIRAUM UND SUCHT

Trotz der diversen Formen des Krankheitsbildes „Sucht“ zeigt Shird Schindlers Langzeitforschung gewisse signifikante Übereinstimmungen der Patient_innen im Laufe der Behandlung. Auffällig sei vor allem, dass „… sich die Selbstdistanzierung der Patienten in der Existenzskala selbst nach acht Monaten Psychotherapie auf unserer Station nicht signifikant ändert, also quasi stabil bleibt auf schlechtem Niveau, was für uns letztlich ein Trait Markerwar: Von allen Werten war er der einzige, der nicht oder kaum veränderbar war.“

Die Selbstdistanzierung markiert das Ausmaß des inneren Freiraums: „Wieviel Freiraum gebe ich mir, wie darf ich sein? Wenn ich mir einen minimalen Freiraum gebe, dann kriege ich schnell Probleme. Schon in Momenten von Müdigkeit, wenn ich ein bisschen durchhänge, überschreite ich meine eigenen Grenzen und bin mit mir unzufrieden. Das Ausmaß dessen, wieviel Freiraum ich mir gebe, ist für mich eines der Hauptkriterien dafür, wie streng das Über-Ich ist. Ab wann ich eins auf die Finger kriege, weil ich dem nicht entspreche. Das hat für mich schon viel mit Sucht zu tun. […] Was verwunderlich war: alle anderen Merkmale haben sich im Laufe der Behandlung geändert – manchmal innerhalb von wenigen Wochen, manchmal im Laufe von ein paar Monaten – aber der ‚Freiraum‘ war der einzige, der stationär eng geblieben ist.“ Die Studie zeigt, dass auch die Transzendenz bei den PatientInnen eher konstant niedrig ist, doch in der Ausweitung sieht Schindler – als Umweg über eine Relativierung des Selbst gegenüber etwas Größerem – eine Möglichkeit, den inneren Freiraum zu vergrößern (Beispiel Religion oder die 12-Step-Programme).

In diesem Zusammenhang spiele „Kontrolle“ als „größter Mythos in der Suchtbehandlung“ (C. Obrist) eine wichtige Rolle. Während PatientInnen z. B. mittels Transzendenz eine Alternative zur Kontrolle hätten, glaubten in der Praxis sowohl Betroffene als auch behandelnde oder helfende Beteiligte, das Problem „Sucht“ mit andauernder Kontrolle (Selbstkontrolle, Kontrolle von außen wie Harnkontrollen, Visitationen etc.) lösen zu können. Corinna Obrist ist überzeugt, dass es notwendig sei, diesbezüglich über neue Modelle nachzudenken: „Das ist ja auch ein Paradigma in der Suchtbehandlung: Dass die Suchtkranken sich selber kontrollieren können müssen und auch selber daran glauben müssen, dass ihre Sucht kontrollierbar ist. Nur ist die Sucht nicht kontrollierbar. Wir tun ja nichts anderes, als sie zu kontrollieren. Im Gefängnis sowieso, wir visitieren ununterbrochen: Harnabgabe, Haaruntersuchung usw. […] Mir kommt es manchmal vor, als hätten die Betroffenen und der Rest der Menschheit dieselbe Idee von Kontrolle. Kontrolle hat aber etwas mit ‚Zusammenreißen‘ zu tun und mit ‚willentlicher Beherrschung‘, und das widerspricht komplett dem Gedanken, dass Sucht eine Erkrankung ist.“

Ein Rückfall beispielsweise, sei ein Symptom der Erkrankung, der auch als ein solcher offen reflektiert werden müsse, ohne ihn auf der einen Seite zu verheimlichen oder auf der anderen Seite direkt zu bestrafen. Dem gegenüber stehe die Notwendigkeit der Kontrolle, um ein möglichst sicheres, drogenfreies Umfeld bieten zu können, sowohl auf der Therapiestation als auch im Gefängnis. Shird Schindler: „Man versucht eben, einen Schutzraum zu bieten, aber man muss genauso Rückfälle akzeptieren. Das Skurrile ist ja, dass Suchteinrichtungen über einen langen Zeitraum Rückfälle als sehr problematisch wahrgenommen haben, obwohl der Rückfall das Charakteristikum der Suchtkrankheit ist: Hätte jemand keine Suchterkrankung, hätte er auch keinen Rückfall. Das habe ich schon immer sehr paradox gefunden.“

Übereinstimmend wird der Fall des (Österreichischen) Abstinenzparadigmas in der Behandlung drogensüchtiger Menschen als wichtige positive Veränderung erfahren, die Schindler jedoch in der Praxis noch nicht optimal umgesetzt sieht: Dort bestehe noch ein Mangel an Erfahrung im Umgang mit Rückfällen als Symptom oder gar als Chance: „Die Empörung und der Ärger, wenn jemand dann tatsächlich rückfällig wird, entspricht nicht ganz jener Überzeugung.“

So bliebe die Enttäuschung von den Menschen selbst, die sich stark negativ auswirke und die Abwärtsspirale in Gang hielte, was wiederum das Abstinenzverletzungssyndrom usw. triggere.

*Die Justizanstalt Wien-Favoriten „hat einen Behandlungsauftrag für jene Straftäter/innen, die im Zusammenhang mit dem Konsum von berauschenden Substanzen ein Delikt begangen haben und durch ein Strafgericht eingewiesen wurden (§ 22 Strafgesetzbuch). Außerdem können sich auch Strafgefangene anderer Justizanstalten auf eigenen Wunsch um eine Aufnahme zur Suchtbehandlung bewerben (§ 68a Strafvollzugsgesetz).“ Zum Weiterlesen siehe die offizielle Seite der Justizanstalt.

Transkription und Text: Nina Glockner