Einleitung
TBDWBAJ ist ein audiovisuelles Porträt drogenkranker Frauen in 5 mitteleuropäischen Ländern. Als gleichermaßen marginalisierte wie perhorreszierte Randgruppe verläuft ihr Leben zumeist weit unter dem Radar des gesellschaftlichen Interesses. Der Drogengebrauch mit all seinen Folgen wird ihnen als individuelles Versagen angelastet und moralisch weit mehr geächtet als der ihrer männlichen Leidensgenossen. TBDWBAJ ist der Versuch, die Situation der inhaftierten Frauen in Deutschland, Österreich, Kroatien, in der Schweiz und den Niederlanden öffentlich wahrnehmbar zu machen und sich gemeinsam in verschiedene gesellschaftliche Räume und Perspektiven zu begeben. Mit Hilfe von Serien identischer Baby Dolls aus Porzellan, die als audiovisuelle Träger die jeweiligen Biografien der teilnehmenden Frauen repräsentieren, wird die künstlerische Forschung zur Intervention: Indem diese im öffentlichen Raum ausgesetzt und somit der Gesellschaft überlassen werden, entscheiden die zufälligen Finder:innen über Umgangsweise und Verbleib der Baby Dolls. Nach ihrem physischen Verschwinden aus der öffentlichen Sphäre sind die biografischen Audioaufnahmen im Projektarchiv auf der Website der OUTCAST REGISTRATION weiterhin zugänglich.
Schicksal »Junkie«? Kollektive Vorbestimmung vs. individuelle Selbstbestimmung
Der Titel des Projekts formuliert bereits das zentrale Anliegen: THIS BABY DOLL WILL BE A JUNKIE widerspricht einerseits der gängigen Vorstellung, jedes Individuum habe das Recht und die Freiheit, sich unabhängig und selbstbestimmt zu entwickeln. Der Lebensweg der Baby Dolls scheint hingegen vorherbestimmt: Sie werden Junkies sein. Darin manifestiert sich zugleich auch die Kehrseite dieser kollektiven Auffassung, die mit der vermeintlichen Berechtigung einhergeht, Drogensucht als rein individuelle Angelegenheit persönlichen Versagens zu verurteilen. TBDWBAJ widerspricht dieser Idee, erforscht stattdessen Ursachen und Zusammenhänge im Leben der beteiligten Frauen und sucht gemeinsam mit ihnen nach Wegen, diese zu erkennen und öffentlich zu artikulieren. Dabei geht es nicht darum, das Ideal der individuellen Selbstbestimmung in Abrede zu stellen, sondern deren Dynamiken, Kausalitäten, wechselseitige Einflüsse, aber auch Inkohärenzen und Unwägbarkeiten zu fokussieren, die sich dem Willen und den Wünschen der Betroffenen entziehen.
Theoretische und künstlerische Reflexionen
»Einige Menschenleben sind betrauernswert und andere sind es nicht«, schreibt Judith Butler 2005 in ihren politischen Essays über die Reaktionen der amerikanischen Bevölkerung auf die Anschläge vom 11. September 2001. Diese »ungleichmäßige Verteilung von Betrauernswürdigkeit« entscheidet darüber, »welche Art von Subjekt zu betrauern ist und betrauert werden muss und welche Art nicht betrauert werden darf«. Die Festlegung dessen dient wiederum »der Erzeugung und Erhaltung bestimmter ausschließender Vorstellungen […], wer der Norm entsprechend menschlich ist: Was zählt als ein lebenswertes Leben und als betrauernswerter Tod?« (Butler 2005, S. 10) TBDWBAJ hinterfragt die Prämissen dieser hierarchischen Normierung und wendet sich dem nicht-betrauernswerten Leben zu. Wer beurteilt die Relevanz erfahrener Gewalt und wer darf für sich Bertrauernswürdigkeit beanspruchen? Trotz der starken, mithin statistisch nachweislichen Präsenz verschiedener Formen von Gewalt im Leben der in vielerlei Hinsicht abhängigen Frauen wird ihnen das gesamtgesellschaftliche Interesse an ihrem Leiden verweigert, mehr noch: Sie werden als gesellschaftlich dysfunktional diskreditiert.
Im Zuge dessen stößt auch der genderspezifische Fokus von TBDWBAJ auf notorische Skepsis und den Vorwurf postfeministischer Betrachtungsweisen, was die weitreichende Problematik dieser vernachlässigten Randgruppe umso deutlicher hervortreten lässt und die daraus resultierende Notwendigkeit der Betrachtungsweise nur mehr bestätigt. Entschiedenermaßen ist TBDWBAJ daher Intervention, die künstlerisches Handeln im Sinne von Hannah Arendt begreift: Die Vita Activa, das tätige Leben, beruht Arendt zufolge auf einem weiten Begriff menschlichen Handelns, das »sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt« (Arendt 2020, S. 24) und somit grundsätzlich das »Faktum der Pluralität« (ebd.) berücksichtigt, also stets in Verbundenheit gemeinsam und zudem öffentlich stattfindet. Die Vorgehensweise von TBDWBAJ ist daher – mit einer Formulierung von Karl Jaspers, die Arendt übernimmt –: ein »Wagnis der Öffentlichkeit«, dessen Ausgang offen ist, aber in einem grundsätzlichen Vertrauen auf das Menschliche vollzogen wird, ohne das jedes Handeln unmöglich wäre.
Methodische Innovationen: Matrix und ›kalte‹ Biografie
Die Entwicklung der sogenannten Matrix-Methode entstand gewissermaßen aus der Not heraus – genauer: aufgrund einer spezifischen Notwendigkeit. Während der Zusammenarbeit mit den beteiligten Frauen zeigte sich, dass sie enorme Schwierigkeiten haben, die Erfahrungen und Ereignisse ihres Lebens chronologisch bzw. zusammenhängend wiederzugeben, geschweige denn die traumatischen Erlebnisse von (sexueller) Gewalt in eigene Worte zu fassen. Suggestive Nachfragen oder die Interpretation von Andeutungen sollten dennoch unbedingt vermieden werden. Ein Katalog mit vorgedruckten, sowohl positiv als auch negativ kontextualisierbaren Begriffen, die auszuwählen und den jeweiligen Lebensabschnitten zuzuordnen sind, ermöglicht es ihnen, ohne emotionale Aufladung oder Wertung Auskunft über Geschehnisse zu geben, die bislang nicht mitteilbar waren. Im nächsten Schritt werden aus den biografischen Wortcollagen Sätze im szenischen Präsenz formuliert, so dass die Ereignisse der Vergangenheit in die Gegenwart geholt werden – und damit auch die andauernde Schwere der genannten Ereignisse präsent bleibt. Die so entstandene ›kalte‹ Biografie gleicht einem Protokoll, das möglichst nüchtern Fakten versammelt. Während die Dominanz sachlicher Informationen den Betroffenen die Konfrontation mit dem Erlebten erleichtert, wird Außenstehenden gerade durch die Diskrepanz zwischen sprachlicher Form und biografischem Inhalt die Tragweite der geschilderten Erfahrungen verdeutlicht. Der anschließende Vorgang des Vorlesens und Aufnehmens ihrer solcherart ›kalten Biografie‹ durch die teilnehmenden Frauen selbst wird von einem bemerkenswerten Effekt begleitet: Erstmals erfahren sie auf diese Weise eine Art Legitimation ihrer Lebensgeschichte, verbunden mit dem Bedürfnis, diese öffentlich zu artikulieren.
Baby Dolls – Repräsentative Objekte subjektiver Erfahrungen
Die Audio-Statements werden nun in die Serie porzellanener Baby Dolls eingebaut, deren Produktion im Rahmen des TBDWBAJ-Projekts von den Frauen erlernt und ausgeführt wird. Dabei sind theoretische Fragestellungen ebenso wie technische Fähigkeiten zu erarbeiten. Porzellan ist das feinste und empfindlichste aller formbaren Keramikmaterialien; es fungiert hier als Chiffre für ein ›Blankoleben‹, das frei und selbstbestimmt zu gestalten ist. Als Artefakt verkörpert die porzellanweiße Baby Doll die zerbrechliche ›Unschuld‹ eines Kindes, die es zu schützen gilt, was im scharfen Kontrast zu der keineswegs ›makellosen‹, unbeschädigten, mit Vorsicht und Wertschätzung behandelten Biografie des Menschen steht, den sie hier repräsentiert. Jede Baby Doll trägt ein Armband mit dem Titel des Kunstwerks und der URL zu den Audiodateien im Projektarchiv der OUTCAST REGISTRATION.
Drop-Off und Intervention im öffentlichen Raum
Wiederholt ›ausgesetzt‹/›fallengelassen‹ zu werden (engl.: to be dropped off) und damit schutzlos der Kontrolle und Gewalt anderer ausgeliefert zu sein, ist eine der zentralen Erfahrungen im Leben weiblicher Junkies. Das Drop-Off greift das Erlebnis des Ausgesetztseins mit einem Akt der Installation im öffentlichen Raum auf. Bekannte wie unbekannte Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kultur werden zur Intervention eingeladen, um die einzelnen Baby Dolls einer biografischen Serie an verschiedenen öffentlichen Orten – sogenannten Drop Zones –, die zum Lebensbereich der Verfasserin gehören, auszusetzen, also zu droppen. In Gruppen von zwei bis vier Dropper:innen werden die Baby Dolls mit dem Taxi an den Ort ihrer Bestimmung gebracht und dort – ohne weitere Aufsicht – der Öffentlichkeit überlassen. Somit gerät das Objekt in den Besitz der Allgemeinheit und wird zugleich zum Subjekt einer öffentlichen Angelegenheit. In der Begegnung mit zufälligen Passant:innen entscheidet sich, was mit ihnen weiterhin geschieht, ob sie angenommen oder abgewiesen, ignoriert oder zerstört werden.
Wenn die Passant:innen die Baby Doll ignorieren, passiert nichts.
Wenn die Passant:innen die Baby Doll aufheben, wird ein Fragment ihrer Biografie hörbar.
Wenn die Passant:innen die Baby Doll umdrehen, sind auf ihrem Rücken Name und Geburtsjahr der Verfasserin zu lesen.
Wenn die Passant:innen die Baby Doll zurücklegen, hört sie auf zu sprechen.
Wenn die Passant:innen die Baby Doll mitnehmen, wird sich ihr weiteres Dasein verborgen vor der Öffentlichkeit im privaten Raum abspielen – behütet oder schutzlos wie das Leben eines realen Kindes innerhalb eines Familienverbunds.
Wenn die Passant:innen die Baby Doll zerstören, endet ihr Dasein.
Expert Meetings – Kollaboration verschiedener Perspektiven und Kompetenzen
Kollaboration auf mehreren Ebenen ist ein Kernelement aller künstlerisch-wissenschaftlichen Arbeiten der OUTCAST REGISTRATION: Erstens die Zusammenarbeit mit den drogenkranken, inhaftierten Frauen; zweitens die Kooperation mit den zahlreichen beteiligten Institutionen; drittens der Zusammenschluss verschiedener Kompetenzen aus Kunst, Kultur und Technologie und viertens die teils diskursive, teils kooperative Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit durch künstlerische Intervention im öffentlichen Raum. Schließlich ist es, fünftens, die enge Kompliz:innenschaft mit Vertreter:innen verschiedener Praxisbereiche und wissenschaftlicher Fachdisziplinen, die sowohl einzelne Etappen des Projekts kritisch begleiten als auch die länderspezifischen Ergebnisse sowie die Wirksamkeit künstlerischer Intervention in sozialpolitischen Fragen während der einberufenen Expert Meetings diskutieren und reflektieren.
Ziele des Projekts
TBDWBAJ betreibt zunächst Grundlagenforschung in der sozialen Peripherie: Im Zentrum steht das Leben weiblicher Junkies, welche biografischen Muster und strukturellen Faktoren an ihrer Situation beteiligt sind und wie sich diese wahrnehmbar machen lassen. Signifikant für die Lebenswege der teilnehmenden Frauen ist der sogenannte Drehtüreffekt, der sich einstellt, weil der Ausweg aus dem verheerenden Kreislauf von Gewalt, Drogengebrauch, Prostitution und Inhaftierung nahezu systematisch verhindert wird. Diese Form des Seriellen spiegelt sich in den einzelnen Projektbestandteilen wider, beim Erstellen der Matrix und der Baby Dolls und schließlich auch im Drop-Off. Die konzeptionelle Architektur von TBDWBAJ fußt auf der Untersuchung verschiedener sozialer Räume, des isolierten Raums, des kulturellen Raums und des öffentlichen Raums. Jeder dieser Räume beschreibt eine Phase des Projekts und nimmt eine andere Perspektive ein, die einerseits dabei helfen soll, die Prozesse bei der tatsächlichen Umsetzung zu beleuchten und andererseits die Erwartungen und Lebensbedingungen verschiedener sozialer Gruppen zu klären, die sich – häufig unbewusst oder auch ungewollt – letztlich denselben Raum teilen. So entsteht ein modulares System, das zunächst unabhängig von länderspezifischen Bedingungen überall angewendet werden kann. Durch das Zusammenspannen verschiedener künstlerischer und medialer Ausdrucksformen sowie theoretischer Diskurse verpflichtet sich TBDWBAJ, weder bestehende Asymmetrien sozialer Beziehungen noch die Abgrenzung der verschiedenen Räume aufrechtzuerhalten, sondern in künstlerischer-wissenschaftlicher Praxis einen Reflexionsbereich zu erschließen, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzeigt. Dabei stellt sich TBDWBAJ auch der Frage, was Kunst an der Schnittstelle zur Wissenschaft zu leisten imstande ist, ja leisten muss, wenn sie soziale Fragen nicht nur behandeln, sondern sich engagieren und einmischen will. Damit geht wiederum die Herausforderung einher, wissenschaftliche Objektivität als Ideal und künstlerische Subjektivität als gleichermaßen notwendige Voraussetzung zu vereinen, ohne ihre unterschiedlichen Prämissen gänzlich einzuebnen. Das weitreichende Netzwerk unterschiedlicher Expertisen im Rahmen der OUTCAST REGISTRATION ist demnach ebenso Begleitinstrument wie Ziel der Projektausführungen, die Wissenszirkulation durch Kommunikation und Reflexion generieren sollen.
Komplementär zum fortlaufend aktualisierten Projektarchiv OUTCAST REGISTRATION ist das gesamte Projekt als Dissertation unter dem Titel THIS BABY DOLL WILL BE A JUNKIE – Kunst und Forschung: Projektbericht über Abhängigkeiten und Gewalträume, 2017 in deutscher und englischer Sprache bei de Gruyter erschienen, dokumentiert.
Quellen
Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt am Main 2005.
Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. Hg. von Thomas Meyer. Neuedition. München 2020.