Outcast Registration

Einleitung


Das Projekt setzt die kunstbasierte Forschung der OUTCAST REGISTRATION fort, das die Lebensbedingungen inhaftierter drogenkranker Frauen vor und nach Beginn ihrer Suchterkrankung untersucht. Im europäischen Vergleich sollen soziale, politische, juristische und kulturelle Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede sichtbar gemacht werden. Um Handlungsräume und Wissenszirkulation im Sinne des OUTCAST REGISTRATION-Netzwerks zu erweitern, werden die bisherigen Untersuchungsergebnisse aus Mitteleuropa (siehe TBDWBAJ) in mehreren Gefängnisprojekten auf der Nord-Süd-Achse Europas ergänzt und vertieft. Inwiefern ist der Umgang mit drogenkranken Frauen in beispielsweise so unterschiedlich geprägten Ländern wie Italien und Dänemark paradigmatisch bzw. repräsentativ für ihre jeweiligen Gesellschaftssysteme? Im Zentrum steht dabei eine prinzipielle Frage: Kann das öffentliche Äußern der individuellen Lebensgeschichte als emanzipatorische Handlung wirksam werden? Und wie lassen sich die Effekte einer solchen artikulatorischen Selbstermächtigung mittels neuer Fragestellungen und Untersuchungsmethoden bereits in den Gefängnissen nutzen, um die Lebensbedingungen drogenkranker Frauen in Europa als gesamtgesellschaftliche Angelegenheit zu thematisieren?

»Frauen laufen nicht weg – weder aus Situationen noch aus Gefängnissen«

Diese gleichermaßen lakonisch anmutende wie extrem folgenreiche Beobachtung eines Anstaltsleiters wurde im Rahmen der bisherigen OUTCAST REGISTRATION-Projekte bestätigt: Die Frauen erfahren sich selbst als prinzipiell schuldig und zu Recht inhaftiert – da braucht es keine Mauern und keinen Stacheldraht. Ihr Leiden an einem zumeist von (sexueller) Gewalt geprägten Leben auf der Straße bzw. im Gefängnis wird dadurch allerdings keineswegs geschmälert, im Gegenteil: Gerade die strukturelle Verdammung zur buchstäblichen Sprachlosigkeit – die eben auch Wehrlosigkeit bedeutet – verschlimmert ihre Situation eklatant. Michel Foucault hat bereits erkannt, dass die Gefängnismauer nicht nur die Funktion hat, das Ausbrechen der Gefangenen zu verhindern, sondern auch die Auseinandersetzung der Gesellschaft mit dem ›Phänomen Gefängnis‹. Es gilt daher, Wege aus diesem Schweigen zu finden und die organisierte wie internalisierte Unsichtbarkeit der Frauen aufzuzeigen.

PARRHESIA: Mut und Pflicht zur Wahrheit

Theoretischer Schlüsselbegriff des Projekts ist Foucaults Konzeption der parrhesia, das den Mut ebenso wie die Pflicht beschreibt, die unmaskierte Wahrheit zu sagen, sich aufrichtig und freimütig gegen herrschende Ordnungen zu positionieren, und zwar in vollem Bewusstsein über das potentielle Risiko, sanktioniert zu werden. Dahinter steht die Überzeugung, auch als scheinbar ohnmächtige/r Einzelne/r einem wiederum machtvollen Individuum gegenüberzutreten und damit für sich und andere verbesserte Lebensbedingungen herbeizuführen. Foucault geht es also nicht darum, die komplexe Idee der Wahrheit an sich zu problematisieren, sondern vielmehr das Wahrsprechen als emanzipatorische Aktivität zu erkennen. Denn parrhesiastisches Sprechen findet im öffentlichen Raum statt und betont dessen politische, ethische und kulturelle Dimension. Das Untersuchungsinteresse richtet sich auf die Tätigkeit des freimütig kritischen Sprechens unter riskanten Bedingungen. Riskant deshalb, weil parrhesia immer hierarchisch konditioniert ist und somit bestehende Diskrepanzen offenbart: hier also ausgehend von der Position der massiv an den äußersten sozialen Rand gedrängten inhaftierten, drogenkranken Frauen, die sich an die Gesellschaft wenden, aus der sie zuvor verbannt wurden, weil sie sich ihrer scheinbar als nicht würdig erwiesen haben.

Tragödie Real Life

Unter Rückgriff auf antike griechische Tragödienstoffe, die auf unterschiedliche Weise von der verzweifelten Suche nach der Wahrheit über die eigene Herkunft erzählen, veranschaulicht Foucault die Bedeutsamkeit des Wahrsprechens. In Sophokles’ Ödipus beispielsweise versuchen die Beteiligten vergeblich, ihrem düsterem Schicksal zu entkommen, ohne jedoch die Prophezeiung selbst anzuzweifeln; letztendlich kommt die Wahrheit eher zufällig und ohne eigenes Zutun ans Licht. Ion hingegen, Titelheld der gleichnamigen Tragödie des Euripides, und seine Mutter Creusa entscheiden sich, gegen bestehende Regeln und Hierarchien das Wort zu ergreifen, um sich von Unrecht und Unterdrückung, von auferlegten Abhängigkeiten und Schamgefühlen zu befreien, obwohl ihnen durch die Enthüllung katastrophale Folgen drohen. Die Essenz beider Tragödien, sich schuldlos schuldig zu machen, ist auch das Leitmotiv im Leben weiblicher Junkies: Sowohl in der literarischen Fiktion als auch im realen Leben werden Menschen Opfer von Gräueltaten, die sich verheerend auf ihre Entwicklung zu selbstbestimmten Individuen sowie auf ihr gesellschaftliches Funktionieren auswirken und damit auf die Gesellschaft selbst. In allen Lebensläufen der Projektteilnehmerinnen finden sich Angaben über Vergewaltigung, Nötigung, grobe Vernachlässigung und Misshandlung ab Kindesalter. In Fiktion und Wirklichkeit sind die (sexuell) Gewalttätigen überwiegend Väter, Onkel, Brüder, Liebhaber, Nachbarn; hingegen wird die körperliche und geistige Verwahrlosung und Schutzlosigkeit hauptsächlich von den Müttern und Großmüttern zugelassen – beides geschieht jedoch häufiger durch Vertrauenspersonen als durch Außenstehende.

Der Katharsis-Effekt

Signifikant ist, dass realiter drogensüchtigen Frauen das Versagen in sozialen und reproduktionsbiologischen Aufgaben schwerer angelastet wird als drogensüchtigen Männern und Vätern. Mutterschaft und Drogenkonsum sind aus etablierter Sicht unvereinbar, drogenkranke Vaterschaft wird als – vermeintlich weniger schädliche – Abwesenheit konnotiert. In der theatralen Inszenierung, auf die Foucault sich bezieht, sorgt die Transparenz des sich abzeichnenden Desasters – trotz aller Anstrengungen der Beteiligten – hingegen dafür, dass das Publikum die kausalen Zusammenhänge erkennt und die sich daraus zwingend ergebenden Entscheidungen der Agierenden nicht nur nachvollziehen, sondern auch mitempfinden, Partei ergreifen und Stellung beziehen kann. Was wir auf der Bühne sehen, ist ihr Mut, die Wahrheit an die Verursacher:innen ihres Leidens zu adressieren und sich damit aus fatalen Machtverhältnissen zu lösen. Eine solche Transparenz und Nachvollziehbarkeit gebührt daher dringend auch den realen Frauen im Gefängnis. Kathartische Effekte sollen demnach zunächst bei ihnen selbst, aber auch bei der bislang zumeist unbeteiligt wegschauenden Gesellschaft eintreten.

Speech Activities

Ziel des parrhesiastischen Wahrsprechens ist nicht nur, im öffentlichen Raum Initiative zu ergreifen und deutlich Stellung zu beziehen, sondern vor allem eine Haltung gegenüber der herrschenden Ordnung und den kritikwürdigen moralischen Vorstellungen zu artikulieren – auch unter Gefährdung der eigenen Sicherheit und Existenz. Foucault schlägt als Übersetzung den Begriff Speech Activity vor, um das Wahrsprechen und die Verpflichtung, die damit verbunden ist, von den gebräuchlichen Formen der Äußerung, mit denen man sich identifiziert, zu unterscheiden. Insofern liegt der parrhesia ein stark performatives Verständnis sprachlicher Handlungen zugrunde, das hier zentral ist, weil es der Selbstermächtigung dient. Da die Frauen ihre Disqualifizierung aus der Gemeinschaft als selbstverständlich und gerechtfertigt annehmen, ja stärker noch: Erlebtes banalisieren, sehen sie sich als die einzig Schuldigen bzw. Verantwortlichen für eine fatale Lebenskonstellation im sogenannten Drehtüreffekt. Wer sich jedoch als unwichtig und schuldig zugleich betrachtet, ist kaum imstande, sich freimütig über entscheidende und bedeutsame Ereignisse zu äußern.

Von der Matrix zur ›kalten Biografie

Mithilfe der aus der Notwendigkeit heraus entwickelten Matrix-Methode sind die beteiligten Frauen in der Lage, biografische Ereignisse und Zusammenhänge zu rekonstruieren und zu artikulieren. Ohne einschränkende Vorgaben oder emotionale Suggestionen wählen sie aus einem Katalog mit ca. 260 Basisbegriffen zutreffende Wörter aus, die ihren individuellen Lebensweg beschreiben. Das Selektieren, Kombinieren und Ordnen befähigt sie, die Folgen traumatischer Erlebnisse nicht länger außerhalb jeglicher Kausalität zu betrachten – ohne dabei in eine Normierung des Lebens, in Schuldannahme oder Schuldzuweisung zu verfallen. Im nächsten Schritt werden aus den biografischen Wortcollagen Sätze im szenischen Präsenz formuliert, so dass die Ereignisse der Vergangenheit in die Gegenwart geholt werden – und damit auch die andauernde Schwere der genannten Ereignisse präsent bleibt. Die auf diese Weise entstandene ›kalte Biografie‹ ermöglicht es den Projektteilnehmerinnen, erstmals Auskunft über ihre Lebensbedingungen vor und nach dem Beginn ihrer Drogenerkrankung zu sprechen und stärkt, wie bereits in den vorangegangenen Projektausführungen deutlich wurde, das Bedürfnis bzw. die Notwendigkeit, sich öffentlich Gehör zu verschaffen.

Ziele des Projekts

Die Ausgangsfrage widerspricht dem gängigen Klischee, dass Junkies nichts Wesentliches zu sagen hätten. In künstlerischer Forschung und Praxis werden die Biografien der Inhaftierten kollationiert und mit den häufig völlig unverhältnismäßigen strafrechtlichen Folgen ihrer Abhängigkeiten kontextualisiert, um schließlich die Marginalisierung weiblicher Junkies als ›gesellschaftlich zu vernachlässigendes Phänomen‹ zu problematisieren.

Im isoliertesten Raum der Gesellschaft erkennen die Teilnehmerinnen Kunst als potentiellen Handlungsraum, und zwar ohne Umschweife und Theoretisierung und ohne dabei die zweifellos asymmetrische Beziehung zu den betroffenen Frauen zu manifestieren. Sich in Offenheit zu begegnen und die unmaskierte Wahrheit sagen zu können, löst im Rahmen der Zusammenarbeit einen unmittelbaren Paradigmenwechsel aus: In dieser Freimütigkeit weicht die übliche Rechtfertigung oder auch Ergebenheit gegenüber der eigenen prekären Situation dem gemeinsamen Anliegen, die Wahrheit zu sprechen bzw. – wie Foucault fordert – sich der Wahrheit zu verpflichten. Dabei werden wiederkehrende Muster und kontingente Strukturen in den Biografien sichtbar, insbesondere auch die Diskrepanzen in der Verhältnismäßigkeit der Straftaten, die als Folge der Suchterkrankung begangen wurden und verbüßt werden, zu den Straftaten, die an diesen Personen seit frühester Kindheit verübt, aber weder registriert noch strafrechtlich verfolgt wurden bzw. werden.

PARRHESIA – DIE RISKANTE HANDLUNG DES WAHRSPRECHENS ist eine genderspezifische Studie, die im interdisziplinären Zusammenschluss Kunst und Wissenschaft verbindet und mithilfe verschiedener Perspektiven ein gesamtgesellschaftliches Phänomen analysiert und kritisch reflektiert. Das Projekt stellt sich erneut der Herausforderung zu erkunden, was künstlerisches Forschen vermag – und was nicht. Die Frage, wie die Kunst die Wissenschaft erreichen, sogar bereichern kann und umgekehrt, ist dabei zunächst dynamisch angelegt; Kunst dient nicht ausschließlich der Wissenskumulation, sondern auch der Auseinandersetzung mit sich ständig verändernden Seinsbedingungen.

Die Kunst wird somit in ihrer sozialpolitischen Vermittlungsinstanz erweitert; der Einsatz audio-visueller Medien wird zum Instrument der Sichtbarkeit und Repräsentation. Künstlerischer Zugriff und empirische Datenerhebung erweisen sich dabei als interdisziplinär anwendbare und komplementär wirksame Untersuchungsmethoden. Im Rahmen neu geknüpfter Kontakte mit Forschungsinstituten, besonders in den Ländern, in denen zukünftige Projektausführungen stattfinden sollen, entsteht so ein großräumiges Netzwerk, dessen Expertise die künstlerisch-wissenschaftliche Forschung zu sozialpolitischen Interventionsmöglichkeiten langfristig befördern und bereichern wird.