Einige Menschenleben sind betrauernswert und andere sind es nicht; die ungleichmäßige Verteilung von Betrauernswürdigkeit, die darüber entscheidet, welche Art von Subjekt zu betrauern ist und betrauert werden muss und welche Art nicht betrauert werden darf, dient der Erzeugung und Erhaltung bestimmter ausschließender Vorstellungen, die festlegen, wer der Norm entsprechend menschlich ist: Was zählt als ein lebenswertes Leben und als betrauernswerter Tod? [Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main 2005]
Dass Häftlinge im heutigen (westlichen) Gefängnis ein lebenswertes Dasein zu führen scheinen – versorgt mit Nahrung und Bett – gilt in der öffentlichen Meinung als eine Schwächung des Sanktionseffektes: staatsrechtliches Auftreten muss als eine vergeltende Maßregel glaubwürdig wahrnehmbar sein. [vergl. Michael Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1994]
Seit der Verminderung der Körperstrafe, öffentlicher Bloßstellung, Züchtigung und Folter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zieht sich die ‚peinliche Frage’ bis in die heutige Diskussion über moderne Rechtsprechung hin, wie denn ohne fühlbare und sichtbare körperliche Gewalt zu strafen sei.
Die ‚Antwort’ wurde durch G. de Mably: De la législation, [Œuvres complètes, 1789, Bd. IX, S. 326.] schon im 18. Jahrhundert auf erstaunlich simple Weise formuliert: Weniger Grausamkeit, weniger Leiden, größere Milde, mehr Respekt, mehr ‚Menschlichkeit’ bewirken eine Verschiebung im Ziel der Strafoperation.
Das heißt: Wenn der Körper nicht gestraft werden darf, dann muss ein adäquater Ersatz gefunden werden, der das Herz, das Denken, den Willen, die Talente: - die Seele- trifft.
JUGEND WOHN ZIMMER
Das Kunstprojekt, ein work in process, findet in der Jugendabteilung der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Vechta, Deutschland, statt und ist in zwei Teile gegliedert: Aktion und installation, die nebeneinander Gestalt annehmen. Die aktion beinhaltet das Vorlesen von Geschichten und das Errichten einer Bibliothek.
Die Installation besteht aus der Umwidmung bereits vorhandener Wohnelemente, kombiniert mit auf die Aktionsinhalte zugeschnittenen Möbelentwürfen, die zusammen eine Lese- beziehungsweise Lebensinstallation formen werden.
Die Objekte für die Installation werden in Zusammenarbeit mit Häftlingen in den Gefängniswerkstätten gebaut. Das Ziel der Arbeit ist ebenfalls in zwei Teile gegliedert: während die vorgetragene Literatur die Bewohner mit ihren eigenen Biografien, Erfahrungen und Sehnsüchten konfrontiert, verändert sich zeitgleich ihre Umgebung. Das Projekt ist vergleichbar mit einer Erzählung: mit dem langsamen Aufbau von Spannung und der allmählichen Identifizierung des Betrachters mit den Hauptfiguren und der Handlung. Parallel dazu wächst das Bild einer sich zueigen gemachten Umgebung.
Dieses Bild ist spekulativ. Ich suche für die Durchführung Formen, Materialien und Techniken, die zur Realisierung des Bildes führen können. Die endgültige Form entsteht nach meiner Vorgabe und der nicht vorhersehbaren Sichtweise der Teilnehmer.
Mädchengefängnis
Die Jugendabteilung des Gefängnisses verwaltet etwa zwölf 14- bis 20jährige Mädchen aus vier Bundesländern Norddeutschlands.
Jugendabteilung der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Vechta, Deutschland. Gefängniszellen für ein oder zwei inhaftierte Mädchen. 2005
Die Abteilung befindet sich im alten Teil des Gefängnisses, einem ehemaligen Kloster und erstreckt sich über das gesamte zweite Stockwerk des Gebäudes. Der circa sieben Meter breite, fünf Meter hohe und 30 Meter lange Flur ist zur Vermeidung von Konflikten durch eine gläserne Wand in zwei Bereiche geteilt. Die eine Hälfte des Flurs hat an der Schmalseite große Fenster mit Aussicht auf den kleinen Gefängnishof der Abteilung, einige Bäume, die Mauer des Gefängnisses und bietet eingeschränkte Sicht auf die Straße hinter der Mauer. Die andere Hälfte hat keine natürlichen Lichtquellen und wird künstlich durch Leuchtstoffröhren erhellt.
Auf jeder Seite befinden sich sechs Zellen, von denen jeweils vier als Gefängniszelle und zwei als Bewachungsund Büroräume dienen. Des Weiteren gibt es auf jeder Seite Gemeinschaftsräume für Aktivitäten und Fernsehen, eine halböffentliche Telefonzelle und eine funktionelle Gemeinschaftsküche.
Jede Zelle ist circa 4 x 2,5 Meter groß und stellt den Wohnraum für ein oder zwei Mädchen dar. Die Zellen werden von den Mädchen selbst im Stil eines Kinder- oder Jugendzimmers eingerichtet, mit Fotos an den Wänden (soweit sicherheitstechnisch zugelassen] einem Holzbett (Privileg der Jugendabteilung), einem erlaubten Kuscheltier und, sofern ausreichend Raum vorhanden ist, einem Nachtschrank oder -tisch zwischen den Betten. Daneben gibt es in der Zelle eine Toilette und ein Waschbecken, die beide jederzeit von den Bewachern einsehbar sind.
Man spricht nicht miteinander, sondern schreit sich an. Es wird nicht gefragt, hinterfragt oder diskutiert, sondern unterstellt, bloßgestellt und ausgelacht, beschimpft und befohlen, beleidigt und bedroht. Die Heftigkeit und der Stress des Gefängnislebens bewirken einen Zwang von plakativer Selbstbehauptung in einer Existenz von Fehlschlägen, Unwertigkeiten, Missbrauch und Enttäuschungen.
Deal
Enthusiasmus gegenüber jedweder sinnvollen oder sinnlosen Beschäftigung ist im Gefängnis nicht zu erwarten. Es ist unwesentlich, ob es um eine geisttötende Tätigkeit wie z.B. Gummikappen auf Tischfüße zu schrauben geht, oder um gut gemeintes Modellieren und Glasieren von Aschenbechern innerhalb eines Töpferkurses. Es ist charakteristisch, dass bei keiner der offiziellen Aktivitäten ein Bezug zu den Erfahrungen und Wünschen der Insassen vorhanden ist. Dies gilt in besonderem Maße für die schwierigen Mädchen in der Jugendabteilung. So scheint während der Haft einzig die bereits bestehende oder zu erwartende Drogenabhängigkeit eine Ausnahme’tätigkeit’ darzustellen – garantiert durch die Vertrautheit eines Verhaltensmusters, und somit die Bestätigung einer gemeinschaftlichen Erfahrung.
LINKS: Holzschnitt der Ludwigsburger Türme im Schwarzwald, Deutschland. Den Gebrüdern Grimm zufolge liegt rings um die Türme der Ursprung des Märchens Rapunzel. Rapunzel (Lat.: Radix Pontica), ist der Name einer kleinen Pflanze mit dicken, essbaren Wurzeln. Die Knolle ist ein Synonym für den Paradiesapfel. Das Wohnen in einem Turm symbolisiert in der Märcheninterpretation die Entwicklung des Denkens. Kennzeichnend für dieses Märchen ist die aktive Rolle der Frauen und die Opferrolle der Männer.
RECHTS: Die Türme von Michael Montaigne [1533-1592].Montaigne lehrt: Der Mensch ist ein veränderliches Wesen; unfähig, die Wahrheit zu entdecken. Als Sklave seiner Gewohnheiten, Vorurteile, seines Egoismus und Fanatismus ist er ein Opfer der Umstände. Diese Feststellung wendet Montaigne auch, beziehungsweise hauptsächlich, auf sich selbst an. In seinen Refl ektionen über das Leben schreibt er: ich unterrichte nicht, ich erzähle.Montaigne lebte jahrelang isoliert in den Türmen seiner Burg, um dort seine Entwürfe, ‚Proben’ zu schreiben. Seine Gedanken Vivre à propos [sinngemäß: Wahrhaftig leben] wurde Ende des 20. Jahrhunderts in der Kunstrichtung Real Life repräsentiert. [siehe auch Wilhelm Schmidt: Ethik der Selbsterfindung. Über produktive Widersprüche bei Montaigne. Kunstforum International, 1999, Bd. 143.]
Die Durchführung jeder meiner Gefängnisprojekte basiert auf einem Deal mit den Häftlingen. Diese äußerst misstrauische Zwangsgruppe von Menschen will nichts wissen von pädagogischen oder therapeutischen Maßnahmen im Rahmen einer erwartungsvollen Hilfeleistung oder von anderen hehren Idealen. Bei meiner Annäherung zeige ich den Häftlingen meine Arbeit als Künstler und frage sie, ob sie mit ihren Beitrag teilnehmen wollen an dem Kunstwerks, einer outcast-registration über (drogenabhängige) Frauen in Europa.
Die Einladung zur Zusammenarbeit ist unumwunden direkt und simpel; ich interveniere im bestehenden Gefängnis-System und richte mich in jedem Projekt auf eine aktuelle Situation der Insassen. Ich bin auf ihre Mitarbeit angewiesen, auf Einsichten, die sie mir über ihr Leben geben können und die inhaftierten Frauen erleben gesehen zu werden, als Mensch innerhalb einer Gemeinschaft.
Ich vermute, dass der Grund für den sich immer wiederholenden Projekt-Enthusiasmus zu suchen ist in einer merkwürdigen Übereinstimmung von Kunst und Leben als outcast. Die scheinbare ‚Nutzlosigkeit’ von Kunst ist bis zu einem gewissen Punkt vergleichbar mit dem unproduktiven Aspekt von Drogenkonsum; und Option, zeitweise der beklemmenden Vorhersehbarkeit ihrer Situation zu entkommen.
Snow White, Psycho Begbie and Diane
LINKS: Screengrab aus dem Film ‚Trainspotting’ (1996, Dir. Danny Boyle), basierend auf den gleichnamigen Roman von Irving Welsh. Buch und Film erzählen die Geschichte von einem jungen, drogenabhängigen Vandalen und ‚trainspotter’, der versucht clean zu werden, und von seinen ‚schlechten’ Freunden loszukommen. Es geht um Sex, Gewalt, Drogen und groben Sprachgebrauch – ohne Verherrlichung. Trainspotting bedeutet wörtlich das Sammeln von Lokomotiv-Nummern. Wenn eine Sammlung komplett ist, verliert das ‚spotten’ seine Bedeutung.Holzschnitt von Ludwig Richter, Schneewittchen. Die Geschichte beginnt wie ein Wintermärchen. Das Leben wird in Phasen von Geburt, Prüfung, Tod und Auferweckung aus dem Tod eingeteilt. Der Spiegel soll Antwort auf Fragen nach Leben und Tod geben. Die Zahl sieben – die sieben Zwerge – verweist unter anderem auf die sieben Tugenden und die sieben Sünden des Menschen.
RECHTS: Holzschnitt von Ludwig Richter, Schneewittchen. Die Geschichte beginnt wie ein Wintermärchen. Das Leben wird in Phasen von Geburt, Prüfung, Tod und Auferweckung aus dem Tod eingeteilt. Der Spiegel soll Antwort auf Fragen nach Leben und Tod geben. Die Zahl sieben – die sieben Zwerge – verweist unter anderem auf die sieben Tugenden und die sieben Sünden des Menschen.
Die Neueinrichtung des Flurs richtet sich auf die Entwicklung von geistiger Bewegungsfreiheit und körperlichen Trost für die Benutzer. Das Leben der Bewohnerinnen – Knastzeit inklusive - ist die Anhäufung eines nicht honorierten Wunsches nach Aufmerksamkeit, Beachtung, Anerkennung. Aufmerksamkeit kommt – ihrer Meinung nach – einem Phantombild von Unversehrtheit in einem bürgerlichen Leben gleich: Wie das Leben aussehen sollte, wenn man nicht in dieser Situation leben würde, müsste -, wie es wäre, wenn am Ende alles gut wird; märchenhaft unrealistisch. Die Pflege dieser Legende ist etwas, das sie nie genießen durften; keine von ihnen kennt die Intimität des‚Vorgelesen- Bekommens’, in dem ihr Erleben der Welt bestätigt wird.
Die literarische Aktion ist der imaginäre Teil des Projekts. Anfangs konzentriere ich mich auf das Erzählen von Geschichten, das Zuhören und die endlose Wiederholung. Ich bin davon überzeugt, dass ich die Mädchen ebenso mit Märchen wie Grimms Schneewittchen als auch mit der Geschichte über die fixenden Psycho Begbie und der 14jährigen Diana aus Trainspotting fesseln kann; in Prinzessinnentraum bis Albtraum ist jedes Schicksal denkbar.
Parallel hierzu entsteht durch die installation ein Interieur, bei dessen Herstellung das Nachdenken, Reflektieren über das Einzurichtende eine dreidimensionale Fortsetzung der Erzählung bildet.
Alle Entwürfe der Einrichtung werden in professionell eingerichteten Werkstätten (Holz, Metall, Textil) des Gefängnisses ausgeführt. Bei der Herstellung jedes Wohnobjekts kommen verschiedene bekannte handwerkliche Techniken zum Einsatz, aber auch Neuerungen, so wie zum Beispiel der Bau einer Strickliesel mit einem Durchmesser von 1,20 m, wodurch monumentales Stricken mit 2 cm breiten Gefängnisdecken- Streifen möglich ist - zum Beispiel um Bezüge für die Sitzelemente zu produzieren. Polstern mit Skai, Filzen von Sitzsacküberzügen, Steppen von Futons sind Techniken, die schnell zu erlernen sind.
Beide Flurräume funktionieren autonom: die Glaswand macht es möglich, die Bereiche visuell zusammenzuführen. Die Räume sollen mit einer flexiblen Standardeinrichtung ausgestattet werden, Tische und Stühle, an denen gearbeitet werden kann, sowie komfortable Sessel für das Vorlesen und Erzählen. Auf jeder Seite entsteht eine eigene Bibliothek, die regelmäßig erweitert wird. Das einzige feststehende Objekt ist das Bucharchiv, alle anderen Möbel sollen auf Rädern bewegt werden (können). Die Formgebung der zwei Räume wird aufeinander abgestimmt; der vordere, helle Teil mit der großen Fensterfront wird in Farben und Formen schlicht gehalten. Die ‚Abhäng-Ecke’ besteht aus langen Kasten-Sitzelementen, die variabel kombinierbar sind (drei Elemente formen Sitz- bzw Liegemöglichkeit von maximal 1Meter x 6 Meter). Die Polsterung der Bänke besteht aus Futons, angefertigt in einer Stapel- und Stepptechnik mit Baumwolltüchern. Für die Lehnen werden schwere, bewegliche Bumerangkissen genäht. Alle Elemente werden mit den verhassten grauen Gefängnisdecken umhüllt. Als Ganzes betrachtet entsteht eine Lounge; die hässlichen Knastdeckenkisten entpuppen sich als distinguierte Design-Couch.
Abhänge-Bank, Basisform. 400cm x 100cm. Holz, Futon, Gefängnisdecken. 1998.
Bumerangkissen; 100cm x 50cm. Gefängnisdecken, schwere Füllung. 1998.
Bezug; 600cm x 100cm. Gefängnisdecken, gestricklieselt, Ø100cm. 2000
Im hinteren Teil des Flures sollen vor dem Einrichten bautechnische Veränderungen vorgenommen werden, um eine Tageslichtquelle zu erschließen; wie bescheiden dann auch referiert der Blick durchs Fenster an das Leben ‚draußen’. Im Übrigen wird dieser düstere Raum wie etwas Phänomenales eingerichtet, ein Irgendwo zwischen UFO und Prinzessinnen-Suite. Basisfarben sind rosa, gelb, hellblau, in uni oder metallicem, verwendetem Basismaterial Leder, Skai und feine Wolle, gewoben oder gefilzt. Die ‚Abhäng-Ecke’ besteht aus acht fahrbaren Sitzsäcken, die zusammen einen Zirkel mit dem Durchmesser von circa 4 Meter bilden, aber in jeder Anordnung Komfort und Wärme gewährleisten und als Einzelteile fahrbare Throne sein dürfen. Die Wände werden mit Skai-unterlegten Leuchtstoffröhren bekleidet.
Die vorhandene Wohnzimmereinrichtung (Rustikal-Altdeutsch-Imitat) auf beiden Seiten des Flures wird neu arrangiert, sodass ein einzigartiges Möbelstück entsteht. In die Holzteile werden Texte eingeritzt, die für die Bewohner bedeutend sind
BEIDE BILDER: Wohnflur in der Jugendabteilung des Gefängnisses.
Die 1- bis 2-Personentische und Stühle sind in Formgebung, Material und Farbe funktionell. Die Tische können zu einer großen Fläche kombiniert oder als separate Arbeitstische genutzt werden, sowohl für Einzelarbeit als auch für Workshops, z.B. beim Vergleich von Literatur und Film.
Neben der Basiseinrichtung plane ich die TV-Zelle in ein XXS-Kino zu verändern, in dem vorlesungsbezogene Filme gezeigt werden können. Auch hier wird ein abteilungsinternes Archiv aufgebaut.
Die Computerräume werden in die neue Einrichtung des Flures integriert; ich strebe eine Mobilisierung der Apparate an.
Schmetterlingsstuhl; 125cm x 80cm. Entwurf von 1938, verkleidet mit Gefängnisdecken.
Das Konzept für JUGEND WOHN ZIMMER wurde auf Einladung der Gefängnisleitung entwickelt, in Folge des Projekts KOLLEKTION GEFÄNGNIS KLEIDUNG, in 2001. Das Konzept und die Planung für die Durchführung wurde von den Mitarbeitern der Jugendabteilung, der Direktion, dem Justizministerium Niedersachsen, und dem Rat der Klostergemeinschaft enthusiastisch befürwortet.
Für die Anschaffung von Büchern und DVD’s haben engagierte Fachhändler im Bundesland Niedersachsen Hilfe und finanzielle Unterstützung zugesagt. Die Intervention in der Jugendabteilung der JVA für Frauen kann unter Begleitung der Betreuer fortgesetzt und regelmäßig aktualisiert werden.