Amsterdam, Herbst 1997
Ebenso wie die meisten Inhaftieren, kann auch ich behaupten, irrtümlicherweise im Gefängnis gelandet zu sein; nämlich in der Justizvollzugsanstalt für Frauen, in Vechta, Deutschland. Anlass war die Einladung, meine Lücke- Skulpturen in diesem Gefängnis auszustellen.
Eine Lücke ist im materiellen Sinne ein Loch, Leere, nicht ausgefüllter Raum, aber zugleich beinhaltet dieses Wort: Entbehrung, Abwesenheit, Verlust. Die Lücken ähneln menschgroßen Vasen aus Wachs, gegossen in einer Form aus Ton.
Anstelle der geplanten Ausstellung meiner Skulpturen haben zwölf Inhaftierte und sechs Bewacher zusammen mit mir ihre eigenen Lücken gebaut und in Wachs gegossen. Diese wurden vom Fotografen Luuk Kramer an Orten fotografiert, die für die Frauen bedeutungsvoll waren oder sind. Anschließend reiste das Projekt Lücke zwei Jahre durch Deutschland und die Niederlande zu verschiedenen (halb-)öffentlichen Instanzen, unter anderem in den Niedersächsischen Landtag in Hannover.
Die Grundlage des oben beschriebenen Projektes ist ein Zitat aus einem Brief des Theologen und Philosophen Dietrich Bonhoeffer aus der Zeit seiner Berliner Gefangenschaft: Widerstand und Haft 1940 - 1945, Heiligabend 1943 […] es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines uns lieben Menschen ersetzen kann und man soll das auch gar nicht versuchen; man muß es einfach aushalten und durchhalten; das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer Trost; denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander verbunden.[…]
ANDREA BACHMEYER
Größe: 90 x 110 x 45 cm
Material: Wachs.
Ort: Wohnung der Mutter, Osnabrück, Deutschland
BRIGITTE MOSER
Größe: 110 x 60 x 60 cm
Material: Wachs.
Ort: Isolationszelle, JVA Vechta, Deutschland
KARIN SCHUMACHER
Größe: 60 x 90 x 40 cm
Material: Wachs.
Ort: Krankenzimmer, JVA Vechta, Deutschland
Geglückte Lücke - Zur Ausstellung von Objekten aus dem Lücke Projekt von Ulrike Möntmann
Gerade in der Not ist Freiheit unverzichtbar. Ins Freie! hat ja auch den Klang nach Neubeginn, nach dem Sichfinden in der harten kalten Luft, die Abstand schafft zur dumpfen Wärme des Unwandelbaren.
Lange hat sich der Schmerz eingefressen, bis er einen Hohlraum geschaffen hat, ein Loch, viele Löcher; bis er die Gefühle und Gedanken porös gemacht hat. Da herausgerissen werden, erhöht den Schmerz, macht ihn nicht schon zur Trauer. Wir Menschen können Schmerz bis zu einem gewissen Grad ertragen, aber wir müssen lernen, daß wir mit ihm nicht umgehen können ohne den Umweg über die Trauer.
Die Lücke, die jemand und etwas hinterläßt, ist eine Form von Trauer. Von bewußter Wahrnehmung dessen, was fehlt. Der Eingeschlossenen fehlt die Freizügigkeit; die erzwungene Unfreiheit ist Anlaß für einen Schmerz, der andere sitzt drin, formt die Frau in ihrer Zelle, hindert sich den Gründen im eigenen Tun zu nähern, und verhindert, daß die Zukunft sich wieder an den ganzen Menschen annähert, ihn umgibt, ihn jenseits des Überlebens leben zu lassen.
Was ist, das fehlt?
Ulrike Möntmann will die Lücke offen lassen, sie nicht schließen. Sie weiß, daß Narben, schlecht verheilt, mehr und dauerhafter schmerzen können, als eine offene Wunde: aus der es auch hinaus will, in die Freiheit, die auch bedeutet: teilen, mitteilen. Das bin ich, das ist meine Lücke. In ihrer Kunst hat U.M. immer die Genauigkeit gepflegt, wie eine Arznei gegen das Erstarren in der randlosen Verzweiflung. Die Lücke ist die Chiffre, hinter der sich verlorener Inhalt verbirgt, das Loch “mit etwas drumherum”, das einen Namen hat, eine Geschichte, die andere wahrnehmen, in Motiven, die andere für wahrhalten, die wahr sein können oder auch nicht. Dies zur Sprache bringen, ist schon schwer genug. Aber vielleicht ist es zum Blick, zur tastenden Aneignung zu bringen.
Der Mensch (nicht nur die Frau) als Gefäß des Schmerzes ist eine Lücke, die symbolische Form ist nicht nur geschlechtsbestimmt. Ich bin, nicht nur, aber sehr grundsätzlich, was mir fehlt. Die gesamte Philosophie der Hoffnung entsteht aus dem Mangel, aus dem Hunger, aus der Abwesenheit.
Ulrike formt mit den Frauen aus der Justiz-Vollzugs-Anstalt den Ausdruck der Lücken, die Frauen formen, was der Vollzug nicht angreifen soll: den Wiedereintritt in die Trauer, und damit den Schritt vom Überleben zum Leben. Im Strafvollzug vollzieht der Staat namens der menschlichen Gesellschaft die Durchsetzung seiner Regeln. Selbst wenn sie akzeptiert werden, sind diese Regeln nur der Rand dessen, was verloren gegangen ist: Würde, Liebe, ein Mensch, ein Bedürfnis, etwas, das wir nicht kennen, oder nur zu gut zu kennen meinen.
Die Objekte symbolisieren nicht die Regeln, sondern das, was sie übriglassen. Da wird nicht Beschäftigung zur Therapie, zur Verdrängung der Trauer verabreicht. Da wird hineingelegt, was noch keine Gestalt hat und seine Form erst sucht. Man kann nicht einfach von der ausgestellten Form auf den Menschen schließen, aber es ist möglich, sich an die unverwechselbare Bedeutung des Kunstwerks zur Erklärung, der Selbsterklärung der Lücke anzunähern: da drin, da dran, bin ich, Spiegel im getrübten Wasser, meine Finger haben dem Wachs und dem Model etwas mitgeteilt, was nicht weggenommen werden darf, die Technik erfordert jene Konzentration, die im bloßen Nach-Denken der Umstände, die zur Unfreiheit beitragen, sich nicht erschöpfen.
Lücke: das ist die Wappnung gegen den Götzendienst der Illusion, gegen dieses fatale “irgendwann… dann mach ich was, dann komm ich ganz groß raus.“ Hier kommen Menschen ganz klein rein und bekommen ihr menschliches Maß wieder durch den Umgang mit dem Rand der Lücke, der schmalen Brücke, die sich zwischen dem Abgrund und der Wand des Fühllosen gerade noch bietet.
Text Michael Daxner